Die Artefaktjägerin 1: Panoplía

Die Artefaktjägerin
PANOPLÍA
Silention I

1

 

September 1867
Südpazifik
20:14 Uhr

Der schnittige Bug der Princess of the Empire durchpflügte die Wellen des Südpazifiks. Es wehte nur ein leichter Wind, aber dennoch erreichte der majestätische Klipper die beachtliche Geschwindigkeit von annähernd zehn Knoten.
Terry O‘Brien stand am Steuer des Seglers und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Der Mond schien von backbord und spendete etwas Licht, doch die Sicht reichte nur wenige Hundert Meter weit. Aber was hätte es schon zu sehen gegeben außer der weiten, fast unendlich scheinenden Wasserwüste des Pazifischen Ozeans.
Das Schiff hatte vor wenigen Tagen den Hafen von Sydney verlassen und sich auf die lange Heimreise nach Schottland begeben. In Australien befand sich das Goldfieber gerade auf dem Höhepunkt, denn schon seit mittlerweile zehn Jahren kamen Menschen aus allen Winkeln der Welt auf den fernen Kontinent, um hier ihr Glück zu suchen und ein Leben in Wohlstand zu führen. Für die wenigsten jedoch würde dieser Traum jemals in Erfüllung gehen.
O‘Brien hielt das Ruder fest in seinen wettergegerbten Händen, die von einem langen und entbehrungsreichen Leben als Seemann zeugten. Er fuhr mittlerweile seit dreißig Jahren zur See, so wie es bereits mehrere Generationen von O‘Briens vor ihm getan hatten. Er war von großer, kräftiger Statur, und sein Gesicht wies durchaus ansehnliche Züge auf, die jedoch von der harten Arbeit gezeichnet waren. Seine blauen Augen hingegen blickten etwas finster drein, und überhaupt erweckte er einen eher mürrischen Eindruck, was sicher ein Tribut an sein Leben voll harter und anstrengender Arbeit war.
Er war bereits seit seinem achten Lebensjahr Seemann und befuhr seitdem auf großen Seglern die Weltmeere. Er hatte als einfacher Schiffsjunge begonnen und sich danach Stück für Stück hochgedient; inzwischen war er der Hauptsteuermann der Princess of the Empire, die zwischen Schottland, Australien und Neuseeland verkehrte.
Neben ihm stand der Matrose Daniel Sullivan, doch die beiden Männer wechselten kaum ein Wort, sondern konzentrierten sich ganz auf die ihnen gestellte Aufgabe, den Klipper sicher auf Kurs zu halten.
Auf dem Oberdeck hielten sich nicht viele Personen auf. Es war früher Abend, und außer der alltäglichen Routine gab es nicht viel zu tun. Einige wenige Passagiere flanierten noch über das Deck, doch der überwiegende Teil der Fahrgäste hatte sich längst in den großen Salon zurückgezogen, um den Tag dort ausklingen zu lassen. Manch einer war auch schon früh zu Bett gegangen.
Die Passagiere bestanden zum größten Teil aus Kolonialbeamten, Geschäftsleuten und Heimkehrern. Letztere hatten entweder das große Glück gefunden oder aber desillusioniert den Heimweg angetreten. Wobei sie wohl doch noch etwas Glück gehabt haben mussten, weil sie zumindest das Geld für die Überfahrt aufgebracht hatten.
In der Heimat warteten auf die Erfolgreicheren unter ihnen bereits Spekulanten, Scharlatane und Vertreter eines ähnlich unnützen Menschenschlags, die nur darauf aus waren, mit möglichst wenig Aufwand selbst zu beachtlichem Reichtum zu gelangen. Wohl würden manche der wohlhabenden Heimkehrer ihren Reichtum genießen können, sofern sie denn umsichtig und überlegt damit umgingen. Viele andere hingegen würden ihr Vermögen schneller wieder verlieren, als sie es einst auf den Goldfeldern Australiens gefunden hatten.
Von der Mannschaft befand sich der größte Teil ebenfalls unter Deck, entweder Karten spielend oder in den Kojen schlafend. Nur ein paar wenige hielten sich am Bug, mittschiffs, achtern und im Ausguck auf, um nach eventuellen Gefahren Ausschau zu halten.
Der Kapitän, David Jenkins, befand sich hingegen bei den Passagieren im Salon, womit er einer ihm wohl eher lästigen Pflicht nachkam. Aber O‘Brien war sich sicher, dass der Kapitän bald nach oben kommen würde, um noch einmal nach den Rechten zu sehen.
In zwei Stunden würde er selbst abgelöst werden. Dann könnte auch er sich endlich in seine Koje legen und in einen wohlverdienten Schlaf sinken. Bis dahin war allerdings noch etwas Zeit, genug, um den bisherigen Reiseverlauf noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen.
Nachdem die Princess of the Empire den Hafen von Sydney verlassen und Auckland passiert hatte, befand sie sich nun nördlich von Neuseeland und schickte sich gerade an, den offenen Ozean anzusteuern. In sechs Wochen würde das Schiff Kap Horn umrunden, sich nach Norden wenden und am Rio de la Plata vorbeisegeln, um Kurs auf New York zu nehmen, wobei der Klipper die Inseln über dem Winde, die sogenannten Windward Islands, und die Bahamas passieren würde. Von New York aus sollte das Schiff schließlich nach Glasgow in Schottland aufbrechen, seine Heimatstadt und Sitz der Reederei Mackellar Bros. & Company, der der Klipper gehörte.
Innerlich freute sich O‘Brien auf das Wiedersehen mit seiner Frau Constance sowie seinen Kindern Nathan, Susan und Elizabeth. Als er seine Familie vor mehr als einem Jahr verlassen hatte, war ein viertes Kind unterwegs gewesen. Doch es würden noch weitere sechs Monate vergehen, bis er seine Liebsten wieder in die Arme schließen durfte, sofern das Schicksal nichts anderes plante.
»Der Alte«, raunte Sullivan.
Kapitän Jenkins erschien an Deck und lief zielstrebig auf den hinteren, achtern gelegenen Bereich zu. Jenkins war von hagerer Gestalt und besaß ein schmales Gesicht, das jedoch mit einem festen Ausdruck aufwarten konnte, der signalisierte, dass der Kommandant über ein beeindruckendes Durchsetzungsvermögen verfügte.
Das war auch nötig, denn die Mannschaft mochte ihren Kapitän nicht wirklich, respektierte ihn allerdings umso mehr. Ein Großteil der Seeleute war nicht freiwillig an Bord. Niemand mochte gern auf einem echten Klipper anheuern. Die Schiffe hatten einen scharfen, extrem schnittigen Rumpf. Das Segelwerk wirkte im Vergleich dazu deutlich überdimensioniert, aber nur so waren die hohen Geschwindigkeiten zu erreichen, die es den Klippern bei guten Wetterbedingungen ermöglichten, jedem zeitgenössischen Dampfer auf und davon zu fahren. Gleichzeitig waren Klipper extrem nasse und äußerst unsichere Schiffe, und manch eines dieser Schiffe sollte sich unter vollen Segeln über den Bug selbst in den Meeresgrund gebohrt haben.
Die Seeleute wurden gemäß der altehrwürdigen Tradition der Royal Navy auf die Klipper gebracht, indem man sie entweder in den Kneipen und Bars der Hafenstädte betrunken machte oder mit falschen Versprechungen auf die Schiffe lockte. War man erst einmal auf hoher See, gab es kein Zurück mehr. Die Leute wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Selbst aus der größten Landratte ließ sich ein halbwegs brauchbarer Seemann formen – es waren raue Zeiten.
»Liegt was an?«, fragte Jenkins, sobald er bei O‘Brien angekommen war.
»Nein, Captain. Alles in bester Ordnung, so, wie es sein soll«, gab der Steuermann als Antwort zurück.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, begann sich der Wind plötzlich zu legen, und die Segel hingen minutenschnell völlig unbeweglich an den Rahen herab. Kapitän und Steuermann sahen sich ungläubig an. Für Besorgnis gab es allerdings keinen Grund, denn Flauten konnten durchaus genauso schnell auftauchen, wie sie wieder vorbei waren, doch ein flaues Gefühl in der Magengegend blieb natürlich zurück.
O‘Brien sah sich nach dem Mond um und bemerkte überrascht, dass er sich plötzlich an Steuerbord befand. Ihm dämmerte rasch, dass nicht der Mond gewandert war, sondern das Schiff seinen Kurs langsam, aber stetig veränderte. Es war von einer plötzlichen Strömung erfasst worden.
Die Princess of the Empire nahm nun wieder Tempo auf, nur leider in der verkehrten Richtung.
»Ruder hart backbord!«, befahl Jenkins.
»Hart backbord. Aye, Sir«, wiederholte O‘Brien. Gemeinsam mit Sullivan bewegte er das Ruder, doch das Schiff gehorchte nicht.
»Land in Sicht«, meldete da überraschend der Ausguckposten.
Jenkins, O‘Brien und Sullivan erkannten in der Ferne die schemenhaften Umrisse einer Insel, die im Dunkel der Nacht unvermittelt aufgetaucht war – und ihr stolzer Segler hielt direkt auf dieses Eiland zu.
Unter dem Einfluss der unheimlichen Strömung rückte das Schiff nahezu unmerklich immer näher an die steilen Uferfelsen heran. Es hatte ganz den Anschein, als würde eine geheimnisvolle Kraft den Segler an die düsteren und menschenleeren Gestade heranziehen.
»Den Anker auswerfen!«, befahl Jenkins, um das Schiff zu stoppen.
Krachend rauschte der Hauptanker in die Tiefe, doch es nutzte nichts: Das Schiff verminderte seine Geschwindigkeit nicht.
Die Passagiere an Deck hatten inzwischen das immer hektischer werdende Treiben der Mannschaft bemerkt, doch die Gefahr, in der sie alle schwebten, hatten sie noch nicht erkannt.
Plötzlich erbebte der Klipper unter wildem Getöse. Die darauf befindlichen Menschen wurden von den Füßen gerissen, und von den unteren Decks war das Bersten dicker Holzplanken zu hören. Die Princess of the Empire war auf einen Unterwasserfelsen aufgelaufen. Doch das Schiff stoppte seine Fahrt noch immer nicht, sondern wurde von der Strömung unerbittlich weiter vorangetrieben.
Der zuvor ausgeworfene Anker verhakte sich, und das Schiff vollführte eine ruckartige Drehung, wodurch das Heck nun in Richtung des felsigen Ufers zeigte. Das Steuerruder zerbrach unter dem Druck, und auch die Ankerkette hielt ihm nicht stand. Sie wurde aus ihrem Fundament gerissen und ging mit einem ohrenbetäubenden Krachen über Bord. In der stetig anhaltenden Strömung gefangen, vollendete das Schiff sein Manöver, und der Bugspriet wies wieder in die Fahrtrichtung.
Die Kollision mit dem unter Wasser gelegenen Felsen hatte die Menschen in der Zwischenzeit auf das Oberdeck getrieben. Passagiere und Besatzung sahen in kopflosem Schrecken, worauf das Schiff zusteuerte: genau auf den Eingang einer finsteren Grotte. Schon tauchte der Bug der Princess of the Empire, wie von magischen Kräften gezogen, unaufhaltsam in das Dunkel der Höhle hinein.
Die oberen Stengen der Masten brachen nacheinander ab, weil diese für die Grotte einfach zu hoch waren. Rahe, Taue und Segeltuch fielen auf die dicht gedrängten Menschen, von denen einige in Panik bereits in das eiskalte Wasser zu springen begannen. Durch die plötzlichen Erschütterungen lösten sich die ersten Felsbrocken von der Decke der Grotte und durchschlugen die hölzernen Decks des Klippers oder peitschten das Wasser rings um ihn auf.
Einige irrten ziellos auf dem Schiff umher, andere kauerten sich aneinander. Offiziere schrien Kommandos, die sich mit den hilflosen Schreien von Frauen und Kindern vermengten, die die Finsternis zwar durchbrachen, aber allesamt ungehört verhallten.
Die Lage der Princess of the Empire war hoffnungslos. Das Schiff hatte seine Geschwindigkeit nur kaum merklich reduziert, und so rammte der Bug mit voller Wucht den inneren Rand der Grotte, was weitere Steinschläge zur Folge hatte. Der Klipper begann nun langsam zu sinken. Immer mehr Menschen sprangen über Bord und versuchten, aus der Grotte herauszuschwimmen, aber die unerbittliche Strömung machte dies unmöglich. Das kalte Wasser tat sein Übriges.
Unter großen Mühen gelang es der Besatzung, ein Beiboot zu Wasser zu lassen, doch es wurde von einem Felsbrocken getroffen und versank schnell. Dem zweiten war das gleiche Schicksal beschieden.
O‘Brien stand wie angewurzelt an seinem längst überflüssig gewordenen Steuer, völlig fassungslos angesichts dieser grotesken, bizarren und grausam anmutenden Szenerie. Es war stockdunkel, nur ein paar eilig entzündete Fackeln und Öllampen spendeten – viel zu wenig – Licht.
Die Wellen schlugen hoch. Das Wasser begann bereits die Reling zu überspülen. Dazwischen waren immer wieder die Schreie und das Wehklagen der im Wasser um ihr Überleben kämpfenden Menschen zu hören.
Sullivan hatte längst die Flucht nach vorn angetreten und war ebenfalls ins Wasser gesprungen. Kapitän Jenkins hatte sich auf das Vordeck begeben, um die Rettungsmaßnahmen zu koordinieren. O‘Brien wusste nicht, ob der Kapitän noch lebte oder bereits tot war.
Der Klipper sank unterdessen immer schneller. Der Bug und das Mittelschiff standen bereits unter Wasser, nur das Heck hielt sich noch darüber, sackte aber auch langsam weg.
O‘Brien sprang mit dem letzten Mut der Verzweiflung in das kalte Wasser. So schnell er konnte, entfernte er sich von dem sinkenden Schiff, um nicht von dem Sog in die Tiefe gezogen zu werden.
Um wie viele Augenblicke mochte er damit sein Leben verlängert haben? Er wusste es nicht.
Die Kälte schlich sich unaufhaltsam in seine Glieder, wodurch seine Arme und Beine nur noch widerwillig ihren Dienst verrichten wollten. Er würde sicher nicht mehr lange durchhalten können.
Noch immer hörte er die nach Hilfe schreienden Menschen, von denen mehr als hundert überall in der Grotte im Wasser trieben, genau wie er selbst. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass die Princess of the Empire inzwischen untergegangen war, und mit ihr auch die letzte Lichtquelle. Er war nun von völliger Dunkelheit umgeben.
Die Stimmen der anderen Überlebenden verklangen mit fortschreitender Zeit, sodass O‘Brien bald ohne jede Hoffnung auf Rettung vollkommen alleine war. Seine Arme und Beine, völlig taub und starr vor Kälte, konnte er kaum mehr bewegen, und auch seine Sinne ließen ihn zunehmend im Stich. Schließlich verlor er das Bewusstsein, wobei er ein letztes Mal an seine Familie dachte, bevor sein Körper in die Tiefe sank.
Endlich beruhigte sich die durch die herabfallenden Felsbrocken aufgewühlte See. Nur noch einige wenige Wrackteile und herumtreibende Reste der Fracht sowie einige andere Trümmer, aber auch der eine oder andere tote Körper kündeten noch von der Katastrophe. Die See strahlte bald wieder eine friedliche, angenehme Ruhe aus – und eine vollkommene Stille.

 

 2

 

Gegenwart
Ligurien, Norditalien
Ein Anwesen, nahe Genua
22:52 Uhr

Es war eine sternenklare Sommernacht, die sich durch eine besonders unangenehme, schwüle Hitze auszeichnete. Selbst um diese Uhrzeit verharrte das Quecksilber des Thermometers noch bei konstanten dreißig Grad Celsius.
Eine Gestalt, offenbar eine Frau, kam aus dem Dickicht geschlichen und steuerte eine Ansammlung von Bäumen an, die sich in unmittelbarer Nähe eines Herrenhauses befanden. Neben einem großen Baum kniete sie schließlich nieder und duckte sich.
Ihre mittellangen schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine schwarze Jeans, eine leichte Stoffjacke in derselben Farbe sowie einfache Sportschuhe. An ihrem rechten Oberschenkel hing ein an ihrem Gürtel befestigtes Holster herab, das mit einem Band etwas oberhalb ihres Knies zusätzlich fixiert war und in dem eine 45er-Halbautomatik ruhte – jederzeit bereit, benutzt zu werden. Ein Rucksack über den Schultern rundete das Ensemble ab.
Schweißperlen rannen Denise Ericsson über das Gesicht, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, ob sie sich das Ganze auch wirklich gut überlegt hatte.
Vor fünfzehn Minuten hatte sie die mit Stacheldraht bewehrte Mauer überwunden und daraufhin eilig das Grundstück durchquert, vorbei an unzähligen Überwachungskameras und Fabrizis kleiner Privatarmee.
Guglielmo Fabrizi war einer der ganz Großen im Dunstkreis von Drogenhandel, Geldwäsche, Schmuggel, Glücksspiel, Menschenhandel und Prostitution der Mafia in Norditalien. Die hiesigen Polizeibehörden wollten ihn schon lange der gerechten Strafe zuführen, aber Fabrizi hatte seinen Kopf bis jetzt immer wieder aus der Schlinge ziehen können.
Denise war aber nicht in offizieller Mission unterwegs, sondern auf private Rechnung. Es war noch nicht einmal ihr Ziel, dem Mafiaboss das Handwerk zu legen, denn ihr Hauptaugenmerk galt einem Artefakt, dem sie nun schon seit elf Jahre nachjagte. So oft sie das Olméca-Amulett in den Händen gehalten hatte, so oft war es ihr auch wieder verloren gegangen.
Durch mehrere Zeitungsartikel hatte sie in Erfahrung gebracht, dass das Amulett in die Hände von Fabrizi gewandert war, und nun wollte sie es haben – ein für alle Mal. Fabrizi hatte es ohnehin nicht auf legalem Weg erstanden, was natürlich eine recht liberale Rechtfertigung für ihr Vorhaben darstellte. Doch sie hatte bereits für sich entschieden, dass sie damit leben konnte.
Nun befand sie sich vor dem Haus – mit seiner neoklassizistischen Architektur ein typischer Bau aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Es hatte drei Stockwerke und ein mit roten Ziegeln gedecktes Dach. Die Mauern bestanden aus großen terrakottafarbenen Sandsteinquadern, zwischen denen sich recht großzügig angelegte Fugen erstreckten.
Vom Eingang aus gesehen kauerte Denise an der linken Seite des Gebäudes. Von dort aus beobachtete sie, wie, von der Vorderseite kommend, immer wieder einige Wachen an der Mauerkante, die sie einsehen konnte, zum Vorschein kamen. Die Kleidung dieser Männer war an das hiesige Klima deutlich besser angepasst als die ihre; Denise glaubte, unter ihrer Kleidung förmlich zu zerfließen. Doch sie gab sich nicht diesem Problem hin, sondern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine überaus wichtige Frage:
Wie komme ich in das Haus hinein?
Zwei Stockwerke über sich erkannte sie eine große Veranda, die von jeweils einem Flaggenmast flankiert wurde. Sie legte ihren Rucksack ab und zog vorsichtig eine handliche Armbrust daraus hervor, in der sich eine kleine Harpune befand, an der ein Kletterseil befestigt war.
Sie schaute zur vorderen Kante der Wand. Ein Wachposten war dort gerade aufgetaucht, verschwand aber genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Denise atmete tief durch und zielte mit der Harpune in Richtung der Veranda. Mit einem leisen Plopp schnellte die Harpune auf die Brüstung zu und landete nahezu geräuschlos auf dem Verandaboden.
Vorsichtig lugte Denise von Neuem in Richtung der Mauerkante, aber keine der Wachen erschien. Langsam zog sie daraufhin an dem Seil, bis sich der Widerhaken der Harpune an der Brüstung verhakte. Denise zog mehrmals kräftig an dem Seil, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich hielt. Mit einem Mal hörte sie Stimmen. Blitzschnell schmiegte sie sich so eng wie möglich an die Wand, wobei sie das Seil sichernd festhielt.
Zwei Wachposten waren erschienen, und mit angehaltenem Atem verfolgte sie, wie die beiden Männer in gedämpftem Tonfall miteinander sprachen. Es dauerte mehrere Augenblicke, bis die Wachen wieder verschwunden waren und Denise erleichtert ausatmen konnte.
Sie verlor keine Zeit, löste sich umgehend von der Wand und zerrte erneut prüfend an dem Seil. Zufrieden registrierte sie, dass es noch immer stabil mit der Brüstung verbunden war. Mit einem Satz begann sie, an dem Seil hochzuklettern, wobei sie sich mit den Füßen in den großen Fugen abstützte, die sich zwischen den Steinquadern befanden. Nach mehreren kraftvollen Zügen war sie an der Brüstung angelangt und kletterte so schnell wie möglich darüber. Vorsichtig glitt sie auf den Boden, wo sie einen Moment lang verharrte. Es rührte sich nichts, nur das Pochen ihres eigenen Herzens sowie der leicht erhöhte Puls waren zu vernehmen. Sie nickte zufrieden und holte das Seil ein, wobei sie darauf achtete, dass dies geräuschlos vonstattenging.
Bedächtig sah sie sich um und entdeckte dabei eine verglaste Doppeltür, die offen stand. Bei jedem Windzug flatterten die weißen Vorhänge ein Stück weit heraus. Rechts davon befand sich ein Fenster mit einem länglichen Blumenkasten davor, doch die darin wachsenden Sommerblumen konnte sie keiner Gattung zuordnen.
Von Zeit zu Zeit traf sie ein kühlender Luftzug, den Denise jedes Mal dankbar annahm, auch wenn er natürlich keinen dauerhaften Effekt haben konnte. Bei dem Gedanken, dass die Temperaturen in dem Zimmer hinter der Doppeltür wohl noch unerträglicher sein würden als hier draußen, erschauderte sie.
Dann los!, sagte sie im Stillen zu sich selbst und schlich langsam zur Tür hinüber. Sie schob den Vorhang ein wenig beiseite, damit sie in das Zimmer blicken konnte. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie zumindest die Umrisse der im Zimmer befindlichen Einrichtungsgegenstände erkennen konnte. Vorsichtig schlich sie hinein, vorbei an einem Bett, in dem eine Person schlief, eine junge Frau, kaum älter als zwanzig Jahre. Denise kannte sie aus dem Dossier über Fabrizi. Es handelte sich um seine gegenwärtige Freundin, irgendein viel zu dünnes, minder erfolgreiches Möchtegernmodel; da er von dieser Sorte schon so einige Gefährtinnen gehabt hatte, würde sie wohl kaum die letzte sein.
Die zweite Betthälfte war unbenutzt, weswegen Denise vermutete, dass sich Fabrizi wohl gerade woanders aufhielt. Sie schlich zu einer weiteren Tür und öffnete sie leise, allerdings nur einen Spalt weit. Vorsichtig lugte sie durch den Spalt in den dahinter liegenden Korridor – und sah … nichts.
Weder Fabrizi noch eine Wache noch sonst irgendwen. Nur eine Reihe von Türen sowie ein paar Lampen, die in einem Abstand von schätzungsweise jeweils drei Metern an den Wänden angebracht waren, aber nur gedimmtes Licht abgaben.
Denise betrat den Korridor und schloss hinter sich vorsichtig die Tür. Geduckt lief sie den Korridor entlang. Auf halber Länge traf sie auf ein Geländer, an dessen Ende eine Treppe vermutlich in den Wohnbereich führte.
An dem Geländer angekommen, duckte sie sich wieder und spähte ganz behutsam darüber hinweg, auf das, was sich darunter befand.
Sie erkannte das Wohnzimmer.
Im Zentrum des Raums standen eine Couchgarnitur – ein Mix aus Leder und schweren Holzelementen – sowie die dazu passenden Sessel und ein niedriger Tisch. Entlang den Wänden befanden sich diverse unterschiedlich hohe Schränke und auch einige Gemälde alter Meister, deren Echtheit Denise allerdings bezweifelte. Direkt unterhalb ihrer Position konnte sie eine Bar ausmachen, an der gegenüber der Couch gelegenen Wand einen Flachbildfernseher, der offenbar stumm geschaltet worden war; anhand der laufenden Bilder konnte sie jedoch erkennen, dass irgendein Börsensender eingestellt war. Mehrere kleine Lampen an den Wänden, die denen in dem Korridor glichen, waren angeschaltet, während der große Deckenleuchter ausgeschaltet war.
Wo ist Fabrizi?, fragte sie sich verwundert.
Sie entdeckte ihn schließlich schlafend in einem Sessel. Auf dem Tisch vor ihm standen einige leere Flaschen, die ursprünglich wohl einmal hochprozentige alkoholische Getränke enthalten hatten, sowie ein Glas. Sie vermutete, dass er aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und des umfangreichen Alkoholkonsums eingeschlafen war, was für ihr Vorhaben nur von Vorteil sein konnte.
Denise schlich in Richtung der Treppe, stets lauschend, ob sich hinter den Türen etwas tat. Doch kein Geräusch drang an ihr Ohr. Offenbar war das gesamte obere Stockwerk Fabrizi vorbehalten. Das war eine positive Erkenntnis, denn das hieß, dass sich hier mit recht hoher Wahrscheinlichkeit keine Wachen aufhielten.
An der Treppe angekommen, blickte sie noch einmal auf den Wohnbereich herab, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Das war es, und sie ging langsam die Treppe hinunter.
Unbemerkt erreichte sie den Wohnraum. Doch kaum war sie hinter dem Sessel, in dem Fabrizi schlief, zum Stehen gekommen, begann sich in dessen Körper doch tatsächlich so etwas wie Leben zu regen.
Scheiße!, ging es ihr durch den Kopf.
Es blieb ihr nicht viel Zeit, aber der Raum war zum Glück ebenso schwach beleuchtet wie der Korridor, sodass sie neben der Bar in einer dunklen Ecke unterhalb der Treppe Schutz fand.
Schlaftrunken beugte sich Fabrizi nach vorn und griff nach dem Glas auf dem Tisch. Enttäuscht stellte er fest, dass es leer war, ebenso wie die beeindruckende Sammlung von Flaschen. Schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel, und Denise konnte ihn in voller Lebensgröße bewundern. Fabrizi wirkte wie eine besonders schlechte Kopie des späteren Marlon Brando, allerdings noch wesentlich übergewichtiger. In einen dunkelblauen Bademantel gehüllt, machte er eher einen ziemlich abgehalfterten Eindruck.
Er schlurfte direkt auf Denise zu, und ihre Hand glitt zum Griff ihrer Pistole. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch sogleich als überflüssig, denn der Mafioso steuerte mit schlafwandlerischer Sicherheit eine Wodkaflasche an, die auf dem Tresen der Bar stand.
Wäre er bei vollem Bewusstsein gewesen, hätte er Denise zweifelsohne bemerkt; doch da dies nicht der Fall war, entdeckte er sie nicht – zumindest nicht sofort.
Er schickte sich an, den Wodka in ein Glas einzuschenken, als er eine Bewegung registrierte. Fabrizi wandte seinen Blick verwundert nach rechts und sah direkt in den Lauf einer Pistole, die wie von Geisterhand geführt, aus der dunklen Ecke hervorlugte.
Mit einer knappen Bewegung der Pistole gab Denise ihm zu verstehen, dass er zurücktreten sollte. Fabrizi gehorchte, während sein Gesicht einen Ausdruck von purem Entsetzen annahm.
Denise bewegte sich langsam voran. Zuerst kam die Pistole vollständig zum Vorschein, gefolgt von ihrem rechten Arm und schließlich ihrem Gesicht. Fabrizi sah ihr direkt in die blauen Augen, und sobald er ihre attraktiven Gesichtszüge erkannt hatte, bemerkte sie eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck. Die anfängliche Anspannung wich einer unangenehmen Lüsternheit, und er musterte sie völlig ungeniert.
Angewidert versetzte Denise ihm mit ihrem rechten Bein einen Tritt dahin, wo es einem Mann im Allgemeinen am meisten wehtut. Zu ihrer Freude verfehlte die Aktion ihre Wirkung nicht. Der Schmerz musste heftig gewesen sein, denn Fabrizi krümmte sich umgehend zusammen, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zugeben. Denise beschloss, seinem Leiden ein Ende zu bereiten, und zog ihm mit der Waffe in ihrer Hand eins über den Schädel, woraufhin er, Gesicht voran, ungebremst auf den Steinboden zu knallen drohte. Geistesgegenwärtig griff sie nach dem Mafioso, um seinen Fall zumindest etwas abzufangen, damit er nicht allzu laut auf dem Boden aufschlug.
Denise lauschte, ob der dumpfe Aufprall des stark übergewichtigen Mannes nicht jemanden aufgeschreckt hatte. Aber das Glück war ihr anscheinend hold. Sie ging in die Hocke und vergewisserte sich, dass Fabrizi nachher aufwachen würde. Sie nickte. Er lebte, würde später wohl aber mit gehörigen Kopfschmerzen wieder zu sich kommen. Der Gedanke zauberte ihr ein schmales Grinsen auf die Lippen.
Sie richtete sich erneut auf und blickte sich in dem Raum um, während sie ihre Pistole in dem Holster verstaute. Fabrizi war kein besonders kreativer Mensch, das hatte sie schon bei vorherigen Begegnungen feststellen dürfen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die ein wunderschönes Artefakt in einem langweiligen Tresor versteckten, der hinter einem ebenso langweiligen Bild verborgen war.
Zielsicher fiel ihr Blick auf eine Replik von Da Vincis Mona Lisa. Nicht, dass die Mona Lisa ein langweiliges Bild war, doch sie vermutete, dass sich genau hinter diesem Bild der gesuchte Safe befand. Sie untersuchte das Gemälde und zog ein wenig daran. Es klappte widerstandslos auf, und dahinter kam tatsächlich wie erwartet ein Safe zum Vorschein.
Wenigstens gibt es keine große Sucherei, dachte Denise und schüttelte grinsend den Kopf.
Der Safe stellte für sie keine Herausforderung dar. Im Handumdrehen hatte sie ihn geöffnet. Mit einem Klack sprang die Tür des Tresors auf, und Denise warf einen ersten Blick hinein.
Einige Bündel Banknoten, irgendwelche Unterlagen, ein kleines Notizbuch mit einem dunkelblauen Einband und ein schwarzer Lederbeutel waren zu erkennen. Den Lederbeutel nahm sie zuerst heraus. Sie zupfte an der Schnur und ließ den Inhalt in ihre linke Handfläche gleiten.
Da war es, das Olméca-Amulett. Ein beeindruckendes Beispiel mesoamerikanischer Handwerkskunst. Es zeigte im Zentrum eine Darstellung des toltekischen Hauptgottes Quetzalcoatl – der gefiederten Schlange -, die von einer Art breitem Ring umrahmt wurde, auf dem mehrere indianische Zeichen zu erkennen waren. Das Amulett bestand natürlich aus purem Gold.
Plötzlich vernahm Denise hektische Stimmen aus dem Korridor vor dem Wohnzimmer. Der Tresor hatte wohl einen stillen Alarm ausgelöst.
Verdammt, die Tür!, ging es ihr durch den Kopf. Die hätte ich vorher kontrollieren müssen, tadelte sie sich innerlich selbst dafür, dass sie sich nicht vergewissert hatte, ob die Tür auch verschlossen war. Sorgenvoll richtete sich ihr Blick auf den Türgriff. Die Zeit schien stillzustehen. Ihre rechte Hand wanderte zum Griff der Pistole. Sie hörte, wie jemand den Türgriff von außen betätigte, aber die Tür ging nicht auf.
Glück gehabt!
Denise steckte das Amulett zurück in den Lederbeutel und nahm das dunkelblaue Notizbuch aus dem Safe. Beides verstaute sie in ihrem Rucksack. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie die Tresortür schloss und das Bild wieder zuklappte.
Kaum hatte sie den Rucksack geschultert, sprintete sie die Treppe hinauf. Keinen Moment zu früh, denn gerade, als sie den oberen Korridor erreichte, wurde die Tür im Wohnbereich aufgebrochen. Schnelle Schritte und undeutliche Sprachfetzen drangen an ihr Ohr, in die sich außerdem das wütende Bellen von Hunden mischte.
So schnell und leise wie nur möglich schlich sie in das Schlafzimmer zurück. Ihr Weg führte an dem Bett vorbei, in dem die junge Frau noch immer tief und fest schlief. Von dem Lärm im Wohnzimmer hatte sie offensichtlich noch nichts mitbekommen – was sich aber ganz sicher bald ändern würde.
Denise war es recht, und sie trat auf die Veranda.
Ein kurzer Blick über die Brüstung genügte ihr, um zu erkennen, dass sie auf diesem Weg nicht mehr entkommen konnte, denn unterhalb der Veranda hatten sich mehrere Wachen versammelt. Denise sah sich um, und ihr Blick fiel auf das Dach. Umgehend kletterte sie auf die Brüstung und zog sich auf das Dach hinauf. Kaum hatte sie dort einen festen Halt gefunden, hörte sie, wie die Frau in dem Schlafzimmer einen markerschütternden Schrei ausstieß.
Die Wachen haben offensichtlich kein Taktgefühl.
Denise lächelte amüsiert und nahm den Schrei zum Anlass, um mit einem beherzten Sprung hinter einem der zahlreichen Schornsteine Schutz zu suchen. Sie presste sich eng an den Schornstein und umklammerte mit ihrer rechten Hand den Griff ihrer Pistole.
Mehrere Wachen stürmten durch das Schlafzimmer auf die Veranda. Von dort schauten sie hinunter und leuchteten mit ihren Taschenlampen das Dach ab, ohne jedoch Denise zu entdecken.
Diese hielt sich nach wie vor hinter dem Schornstein versteckt, war aber jederzeit bereit, eine wilde Schießerei vom Zaun zu brechen. Doch zu ihrem Glück verschwanden die Wachen wieder im Haus, um die Suche nach dem vermutlichen Eindringling drinnen fortzusetzen.
Sie sackte in die Knie und atmete erleichtert einmal tief durch.
Wie geht es nun weiter?
Suchend sah sie sich um, bis ihr Blick auf die oberen Wipfel eines Baumes fiel. Nach einer Weile richtete sie sich auf und tänzelte leichtfüßig und gleichzeitig vorsichtig über die Dachziegel zur gegenüberliegenden Seite des Daches. Sie nahm Anlauf und sprang auf den Baum zu, was einem Sprung ins Ungewisse gleichkam und damit ein recht leichtfertiges Unterfangen darstellte. Wenn es schiefging, bedeutete das für Denise den sicheren Tod. Doch sie bekam tatsächlich einen Ast zu fassen, der sich allerdings als verhältnismäßig instabil herausstellte, weswegen sie sich auf einen etwas weiter unterhalb liegenden Ast hinabgleiten ließ.
Hier konnte sie eine kleine Pause einlegen.
Sämtliche Fenster des Herrenhauses waren inzwischen hell erleuchtet, sodass die Umrisse der darin herumlaufenden Menschen leicht zu erkennen waren.
In dem Haus muss der Teufel los sein.
Denise hangelte sich vorsichtig weiter nach unten, aber als sie gerade vom letzten Ast aus auf den Boden springen wollte, kam eine Wache, eine Frau, angelaufen.
Gerade noch rechtzeitig stoppte Denise ihre Bewegung. Mit den Füßen stützte sie sich auf dem untersten Ast ab, während sie sich mit den Händen an einem weiteren Ast festhielt. Diese Position war nicht nur völlig unvorteilhaft, sondern auch noch absolut unbequem. Ihre Muskeln verspannten sich zusehends.
In dieser Stellung verharrte sie mehrere Herzschläge lang, bis der weibliche Wachposten endlich direkt unter ihr stand. Denise ließ sich fallen, nachdem sie beide Hände zu einer Faust geballt hatte. Mit voller Wucht traf sie die Frau auf den Hinterkopf, sodass diese der Länge nach bewusstlos zu Boden ging.
Denise kam neben ihr auf. Sie federte den Aufprall etwas ab, indem sie in die Hocke ging. In dieser Stellung verharrte sie erneut ein paar Sekunden. Hier draußen war noch alles ruhig, aber es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis Fabrizis Sicherheitskräfte ihre Suche auf das gesamte Anwesen ausdehnen würden.
Entschlossen richtete Denise sich auf und rannte los, wobei sie direkt auf die Außenmauer zuhielt. Kurz vor dem Hindernis forcierte sie ihr Tempo noch einmal und sprang energisch ab. Mit beiden Händen griff sie nach der Kante und zog sich daran hoch. Oben angekommen, wollte sie sich eigentlich über den Stacheldraht hinweg abrollen. Doch das Manöver misslang. Ihr linker Oberarm kam dem Stacheldraht zu nahe, und zwei der Stahlspitzen bohrten sich unvorhergesehen in ihn hinein.
Im ersten Moment war Denise völlig benommen. Sie verlor die Kontrolle und fiel an der äußeren Seite der Mauer hinunter. Dabei stieß sie mit dem verletzten Oberarm an den Rand des dahinter liegenden Grabens. Der Schmerz war fürchterlich. Er raubte ihr die Sinne und presste ihr die Luft aus der Lunge. Sie krümmte sich und biss die Zähne zusammen; Tränen liefen ihr die Wangen hinunter – auch weil sie einen Schrei unterdrückte, um ihre Verfolger nicht ungewollt auf sich aufmerksam zu machen. Nach einiger Zeit erlangte sie endlich die Kontrolle über ihren Körper zurück, wollte aber nur noch eines: liegen bleiben – wenigstens ein paar Minuten.
Ich muss hier weg!, schoss ihr durch den Kopf.
Mühsam richtete sie sich auf und kontrollierte ihren verletzten Oberarm, aber die Sichtverhältnisse waren zu schlecht, als dass sie wirklich etwas hätte erkennen können. Auf dem Anwesen wurde es inzwischen zunehmend lebendig. Die Wachen hatten ihre Suche nun offenbar auch nach draußen verlagert.
Der menschliche Körper ist ein Phänomen. Gerade, wenn man denkt, es geht nicht mehr, setzt er doch noch Reserven frei. Wenigstens für einen beschränkten Zeitraum.
Denise war völlig erschöpft, aber sie musste es nur noch über diese kleine Wiese zu dem Waldstück schaffen, wo ihr Auto stand. Mit allerletzter Kraft rannte sie los, wobei die durchgeschwitzte Kleidung unerbittlich an ihren Gelenken scheuerte.
Außer Atem ließ sie die Wiese hinter sich, überquerte den schmalen, geteerten Weg und lief dem kleinen Wäldchen entgegen. Noch während des Laufens fingerte sie ihren Autoschlüssel aus der Jackentasche und betätigte ihn, woraufhin sie ein Stück vor sich die Zentralverriegelung ihres Wagens aufspringen hörte. Sie streifte sich den Rucksack ab und hielt ihn mit der rechten Hand fest, während sie mit der linken die Fahrzeugtür öffnete. Mit dem Rucksack voran sprang sie in den kleinen Geländeflitzer.
Der Rucksack landete punktgenau auf dem Beifahrersitz, während Denise, beinahe am Ende ihrer Kräfte, auf dem Fahrersitz Platz nahm. Im Reflex wollte sie die Tür schon mit aller Wucht zuschlagen, besann sich jedoch im letzten Moment noch eines Besseren und federte sie mit der Hand ab. Leise glitt die Tür ins Schloss, aber für ihren verletzten Oberarm war diese Aktion natürlich kein Vergnügen gewesen.
Schwer atmend kämpfte sie den Schmerz zurück, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum. Der Motor sprang gehorsam an. Denise legte den ersten Gang ein, betätigte langsam Kupplung und Gaspedal, woraufhin sich der Wagen, ohne viel Lärm zu verursachen, in Bewegung setzte. Solange sie dem schmalen Weg zur Küstenstraße folgte, schaltete sie kein Licht ein. Das Anwesen blieb links hinter ihr zurück.
Nur kurze Zeit später erreichte sie eine Kreuzung und bog nach links ab, Richtung Genua. Denise beschleunigte den Wagen und schaltete nun auch das Licht ein. Immer wieder blickte sie prüfend in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihr tatsächlich niemand folgte.
Einigermaßen entspannt ließ sie sich in den bequemen Fahrersitz zurücksinken, sobald sie sich sicher war, dass ihre Flucht gelungen war. Ihr Blick wanderte zu dem Rucksack auf dem Beifahrersitz. In wenigen Stunden würde sie mit einem gecharterten Jet auf dem Weg in ihre Heimat sein. Zeitgleich würden hiesige Freunde den örtlichen Behörden das kleine dunkelblaue Notizbuch zuspielen, dank dessen Inhalt es ein Leichtes sein würde, Guglielmo Fabrizi für den Rest seines erbärmlichen Daseins aus dem Verkehr zu ziehen.
Ein breites, triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Denise legte den nächsthöheren Gang ein und trat das Gaspedal durch, woraufhin der Motor kurz aufheulte und das Auto mit Höchstgeschwindigkeit dem Lichtermeer Genuas entgegeneilte.

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