M&F: Sturm über Porrima

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Im Gravstream
Orion-Leitstrahl
September 2354 (ESZ)

Commander Matthew Keaten, Raumoffizier der Vereinigten Erdstreitkräfte, schaute fasziniert aus dem vorderen Sichtfenster des Zodiac-Shuttles auf die in schneller Folge vorbeiziehenden Sterne, die so wirkten, als hätte eine geheimnisvolle Kraft sie in unregelmäßig lange Streifen gezogen. Ein Bild, das von den sich ständig ändernden blau-grau schimmernden Nebelformationen abgerundet wurde, die sich vor den verzerrt wirkenden Sternen aufbauten und wieder verschwanden, um dann an anderer Stelle von Neuem zu entstehen – der für den Hyper Gravitation Stream so charakteristische Anblick.
Er war fünfunddreißig Jahre alt und von mittelgroßer, sportlicher Statur. Die Haare trug er sehr kurz, wodurch seine markanten und nicht unattraktiven Gesichtszüge auf vorteilhafte Weise zur Geltung kamen. Ein Eindruck, der von seinen energisch dreinblickenden blauen Augen, die einen wachen und scharfsinnigen Verstand anzeigten, noch zusätzlich unterstrichen wurde.
Mit einem leisen Seufzen wandte er seinen Blick von dem Gravstream ab und widmete sich den zum Teil holografischen Instrumenten des Shuttles. Vor allem kontrollierte er, ob das kleine Raumschiff noch immer korrekt dem Leitstrahl nach Pi³ Orionis folgte.
Ein permanenter Kontakt zum Leitstrahl war von essenzieller Bedeutung, denn verlor ein Raumschiff erst einmal die Verbindung zu diesem, dann war es meist hoffnungslos im Stream gefangen. Es sei denn, es konnte entweder einen anderen Leitstrahl kontaktieren oder verfügte über einen Hypergenerator, mit dem es einen autarken Übergang in den Normalraum generieren konnte. Aber nur große Raumschiffe – vorzugsweise Kriegsschiffe – waren in der Regel mit so einem Gerät ausgestattet.
Das Zodiac besaß keinen, da der Speicherkern eines Shuttles keine ausreichende Menge der zum Betrieb eines Hypergenerators benötigten Energie zur Verfügung stellen konnte. Das war auch nicht notwendig, denn das kleine keilförmige Raumschiff wurde speziell für Missionen von begrenzter Dauer und Reichweite verwendet, für die alle anderen Schiffe entweder zu groß oder zu klein waren.
Es bot für bis zu acht Personen Platz und war nicht nur beim Militär sehr beliebt, denn auch Wissenschaftler zeigten sich von dem flexiblen Raumfahrzeug begeistert, und so verwunderte es nicht, dass es auch eine besondere Variante für rein wissenschaftliche Unternehmungen gab.
Seine Einsatzmöglichkeiten waren vielfältig und wurden noch durch die Trans-atmosphären-Flugeigenschaften erweitert, die es ihm erlaubten, sowohl in Atmosphären von Planeten als auch im Vakuum des Alls zu operieren.
Während Matthew noch immer mit den Kontrollinstru­menten beschäftigt war, betrat Lieutenant Commander Alexandra Guerra mit einem üppig belegten Sandwich in der Hand die kleine Brücke. Sie nahm auf dem Sitz des Kopiloten Platz, und sobald sie eine bequeme Sitzposition gefunden hatte, wandte sie sich ihm zu: »Wann werden wir das Sprungtor erreichen, Commander?«, fragte sie und biss ein Stück von ihrem Sandwich ab.
»In weniger als dreißig Minuten.«
»Wird auch Zeit«, murmelte sie mit vollem Mund. »Ich bin froh, wenn wir den Hyperraum endlich verlassen können.«
Er schenkte ihr ein mildes Lächeln und schüttelte leicht den Kopf, denn die Bezeichnung Hyperraum war im eigentlichen Sinne falsch, aber da dieser Begriff schon immer auch für ein interstellares Reisesystem stand, wurde auch der Gravstream oft und gerne so bezeichnet.
Gerade als er zu einer Erwiderung ansetzen wollte, erklang ein elektronisches Annäherungssignal, das nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.
Guerra schluckte unterdessen noch schnell den letzten Bissen ihres Sandwiches hinunter, bevor sie sich etwas nach vorne beugte und die Sensoren kontrollierte, wobei ihr eine rotbraune Haarsträhne in die Stirn fiel.
»Ein Frachter kommt vor uns auf«, sagte sie schließlich gelassen und schob die Haar- strähne wieder hinter ihr rechtes Ohr zurück. »Hat anscheinend dasselbe Ziel wie wir. Zumindest folgt er dem Orion-Leitstrahl.«
»Können Sie identifizieren, woher er kommt?«, fragte Matthew und nahm die Anzeigen nun selbst genauer in Augenschein.
»Einen kleinen Augenblick«, erwiderte sie, während sie die einkommenden Daten evaluierte. »Muss ein ziemlich alter Kasten sein. Nach den Sensordaten zu urteilen, benutzen die noch einen alten Kestrel-Fusionsreaktor der zweiten Generation.«
»Sind Sie sicher?«
»Fehler ausgeschlossen«, sagte sie etwas ratlos. »Dieser Reaktortyp wird seit fast fünfzig Jahren nicht mehr verwendet. Die waren doch schon vor dem Erde-Sidani-Krieg veraltet.«
Matthew schaute nachdenklich die Daten an, aber ein Sensorfehler war tatsächlich auszuschließen. »Wirklich seltsam«, stimmte er ihr zu. »Der Frachter kann allerdings auch aus der Union stammen.«
»Etwa die Union von Rana, Sir?«
Er nickte. »Genau. Vom Rana-System selbst einmal abgesehen, findet in der Union Fortschritt, egal welcher Art, kaum statt. Sogar die Handelskonzerne von Rana Prime rüsten ihre Schiffe mit zum Teil völlig anachronis­tischer Technik aus.«
Die Union oder das Despotat von Rana, wie es ebenfalls genannt wurde, hatte sich kurz vor dem großen Krieg mit den Sidani vom Erdsupremat losgelöst. Sie konnte ihre Unabhängigkeit auch bewahren, denn aufgrund der beginnenden Kampfhandlungen war die Erde nicht mehr in der Lage gewesen, entscheidend dagegen zu intervenieren.
Hauptinitiator der Union waren die Oligarchen aus dem Rana-System, das somit auch die alleinige Führungsrolle innerhalb der Union für sich beanspruchte.
Allerdings war die Union Lichtjahre davon entfernt, ein einheitliches und starkes Bündnis darzustellen. Die einzelnen Mitgliedersysteme wiesen zum Teil beträchtliche Unterschiede in ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung auf, weshalb die innere Ordnung sehr rasch zerfallen war, zumal sich die Regierung auf Rana Prime mit der nominellen Oberhoheit zufriedengab.
Aus diesen Gründen befand sich die Union intern in einem desolaten Zustand; die Systeme verfielen in Anarchie oder standen unter der Kontrolle selbstherrlicher Gouverneure. Probleme, die durch eine überbordende Piraterie noch verstärkt wurden.
Zwar verfügte die Union durchaus über eine Raumflotte, doch diese bestand zum Großteil aus veralteten Einheiten, die zu allem Übel zahlenmäßig noch nicht einmal genug und hauptsächlich auf das Rana-System selbst beschränkt waren. Den übrigen Unionswelten fehlten schlichtweg die Mittel für eigene nennenswerte Raumstreitkräfte, wenn man einmal von einigen kleineren Patrouillenfahrzeugen absah.
Die Piraten hatten unter solchen Umständen natürlich nahezu freie Hand, sodass sich Handelsschiffe nur unter ständigem Geleitschutz, zusammengefasst zu Konvois, in den Hoheitsbereich der Union wagten.
Trotzdem stellte die Union neben dem Vereinigten Erdsupremat – offiziell: Unified Earth Supremacy, kurz UES – und der Interstellaren Grenzallianz eine der drei großen von Menschen bewohnten Staatenkonglomerate dar. Daneben existierten aber noch mehrere Dutzend unabhängige Einzelsysteme sowie unzählige sogenannte Outlaw-Kolonien.
»Ich erhalte jetzt das Transpondersignal des Frachters«, meldete Guerra.
Jedes Schiff – egal, ob es sich nun um ein Kriegsschiff oder um ein ziviles Raumschiff handelte – verfügte über einen eigenen einzigartigen Identifizierungscode, anhand dessen ein Schiff zweifelsfrei erkannt werden konnte. Es gab zwar Möglichkeiten, den ID-Code zu manipulieren, doch waren diese sehr aufwendig, teuer und noch nicht einmal großartig Erfolg versprechend, weshalb man es meist erst gar nicht versuchte.
»Und wie heißt der Frachter, Alexandra?«
»Union Conveyor«, antwortete sie zügig und studierte die Angaben über das Schiff, die in der Datenbank zu finden waren. »Sie hatten recht, Commander. Die Conveyor ist für ein Unternehmen von Rana Prime registriert. Die Gesellschaft heißt United Interstellar Trading Company – noch nie gehört von dieser Firma.«
»Das sollten Sie aber«, begann Matthew zu erklären. »UITC ist einer der größten Handelskonzerne im hiesigen Sektor. Das Unternehmen gehört, wenn ich mich noch richtig erinnere, sogar dem aktuellen Premier der Union.«
»Was Sie so alles wissen, Sir«, entgegnete sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Vielleicht ist das der Grund, warum Sie schon Commander sind und ich noch immer Lieutenant Commander.«
Normalerweise grenzte diese Art von Gespräch schon recht nahe an Insubordination, aber Matthew und Guerra hatten sich bereits vor zwölf Tagen kennengelernt; auf Omicron III im System Omicron Eridani, beim Taktiklehrgang für Führungsoffiziere unter der Ägide von Vizeadmiral Hathaway.
Sie hatte ihn mit einem Verlegungsbefehl auf das Schulschiff UEAV Arrogant überrascht, dessen Erster Offizier er war.
Guerra war recht unkompliziert und konnte äußerst direkt sein, Eigenschaften, die Matthew durchaus zu honorieren wusste, auch weil er diese selbst nicht in einem größeren Umfang besaß. Er war doch eher zurückhaltend, ruhig und auch etwas verschlossen. Generell gab er einer besonnenen und überlegten Handlungsweise stets den Vorzug. Dieses Verhalten entsprach vollkommen seinem Charakter, was sich auch darin manifestierte, dass er es eigentlich für das Vernünftigste hielt, wenn zwischen Vorgesetzten und Untergebenen immer eine gewisse professionelle Distanz gewahrt wurde. Genau wie zwischen ihm und Captain Katherine McNair, der Kommandantin des Schulschiffs.
»Tja«, wandte er sich mit einem nicht ernst gemeinten Raubtierlächeln an Guerra. »Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch noch eine ganze Weile länger auf Ihre Beförderung warten müssen, Alexandra.«
»Die Message ist angekommen, Sir«, erklärte sie ruhig und schaute erneut auf die Anzeigen. »Wir erreichen in Kürze die Conveyor. Sie müsste sogar bald in Sichtweite kommen.«
Dass sich zwei Raumschiffe im Stream begegneten, war ein überaus seltener Vorgang. Selbst dann, wenn sich gerade – wie jetzt in diesem Augenblick – Tausende Raumschiffe gleichzeitig im Gravstream aufhielten. Aufgrund der gewaltigen Entfernungen im All kamen sogar innerhalb des Stream Begegnungen mit anderen Raumschiffen kaum vor.
»Da ist er!«, rief sie plötzlich aus, sobald der Frachter in der Ferne auszumachen war. Zu Beginn nur als ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Punkt, doch dann baute sich das Handelsschiff schnell zu beeindruckender Größe auf.
Das Design entsprach dem für Handelsschiffe gängigen dreigeteilten Muster. Frachter bestanden in der Regel aus einer Kommandosektion am Bug, einem mittleren Frachtbereich und der achtern gelegenen Maschinenabtei­lung mit den Triebwerken. Die Union Conveyor war ein Koloss von fast eintausend Metern Länge, und ihre Formgebung wirkte überraschend modern, nur das einzelne Ionentriebwerk am Heck sowie der veraltete Kestrel-Fusionsreaktor trübten diesen Eindruck ein wenig.
Der wesentlich kleinere Shuttle holte rasch auf und setzte sich schließlich backbord neben das gigantische Frachtraumschiff.
»Funken wir sie an! Mal sehen, ob da drüben alles in Ordnung ist«, sagte Matthew, nachdem er die Conveyor mehrere Augenblicke lang gemustert hatte.
»Die werden nicht gerade begeistert sein, von einem Shuttle der Erdstreitkräfte kontaktiert zu werden, Commander.«
»Pi³ Orionis gehört zum Hoheitsbereich der Erde, daher haben wir dazu jedes Recht des Universums«, stellte er unmissverständlich und selbstsicher klar, worauf sie zustimmend nickte.
»Union Conveyor! Hier ist der Erdshuttle ATS-124-03. Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Bitte kommen, Union Conveyor
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich auf dem anderen Schiff endlich jemand meldete. »Bei uns ist alles in Ordnung, Erdshuttle. Danke der Nachfrage«, lautete die kurze Antwort; man konnte dem Sprecher ein deutliches Unbehagen in der Stimme anmerken. Auf dem Frachter schien man die kleine Nachfrage eher als Schikane aufzufassen und nicht als Höflichkeit unter Raumfahrern.
»Danke für die schnelle Antwort«, erwiderte Guerra, doch noch war sie mit dem Frachter nicht fertig: »Was ist Ihr gegenwärtiges Ziel, und welche Art Ladung führen Sie?«
»Wir liefern landwirtschaftliche Maschinen, Ersatzteile und Saatgut nach Orion V«, kam diesmal eine rasche Antwort zurück, wobei der Sprecher noch immer recht angestrengt klang.
Matthew und Guerra warfen sich fragende Blicke zu, doch da es an der Antwort nichts auszusetzen gab, erteilte er schließlich sein Einverständnis, dem Schiff den Weiterflug zu erlauben.
»Wir danken für Ihre Kooperation, Union Conveyor«, kontaktierte Guerra den Frachter erneut, »und wünschen Ihnen eine angenehme und sichere Weiterreise. Erdshuttle, Ende.« Nachdem sie die Verbindung getrennt hatte, schaute sie zu Matthew hinüber. »Auf deren Be­liebtheitsskala sind wir gerade ein ganzes Stück nach unten gerutscht, Sir«, erklärte sie mit einem Minimum an Sarkasmus in der Stimme.
»Wir werden wohl damit leben müssen«, folgerte er mit gespielter Betroffenheit und schaute durch das Steuerbordfenster auf den vorbeiziehenden Frachter.
Irgendetwas stimmt nicht mit dem Schiff. Aber was nur?, dachte er, während das Handelsschiff allmählich hinter dem Shuttle zurückblieb. Etwas missfiel ihm, doch ein erneutes Audiosignal unterbrach ihn in seinem Gedankengang, und auch Guerra wandte sich wieder den Instrumenten zu.
»Das Signal von der Torboje«, stellte sie erfreut fest. »Wir erreichen bald das Orion-Sprungtor.«
Raumschiffe, die nicht über einen eigenen Hyper­generator verfügten, brauchten eine andere Möglichkeit, um in oder aus dem Gravstream zu gelangen, und zwar mithilfe sogenannter Sprungtore.
In jedem System befand sich an dessen äußerster Grenze ein Sprungtor, denn dort waren die Gravitations­kräfte zwischen dem jeweiligen Stern und dem Gravstream am schwächsten, weshalb hier ein Übergang in den Normalraum und zurück am einfachsten zu bewerkstelli­gen war.
Jedes Sprungtor verfügte über eine eigene Torboje, die im Stream dauerhaft verankert war. Die Boje strahlte den Leitstrahl aus, der den Raumschiffen im Hyperraum zur Orientierung diente; daneben fungierten diese Bojen auch als Kommunikationsbarken und Verstärkerrelais, mit denen Nachrichten überlichtschnell verschickt werden konnten. Damit bildeten die Bojen auch das interstellare Kommunikationsnetzwerk.
»Gut, dann sollten wir uns bereit machen und die Sprungsequenz starten, sobald wir nah genug sind«, entschied Matthew.
»Erreichen die Torboje in T minus zehn Sekunden«, meldete Guerra schon kurz darauf und zählte die Sekunden herunter, bis sie mit den Worten »Initiiere Sprungsequenz … jetzt!« einen Energieimpuls in Richtung der Boje aussendete und diese ihrerseits das Signal an das Sprungtor weiterleitete.
»Cassin-Vortex wird aufgebaut«, kommentierte sie den Vorgang weiter und schaute mit verhaltener Vorfreude auf das, was vor dem Shuttle gerade passierte.
Nachdem das Sprungtor das Signal empfangen hatte, fuhr es seinen Quantium-50-Hochleistungsfusionsreaktor hoch und sendete einen Gravitonimpuls in Richtung des Gravstream aus, wodurch sich eine Art Riss bildete, der so bezeichnete Cassin-Vortex, benannt nach der Wissen­schaft­lerin Andrea Cassin, die ihn einst vor mehr als zweihundert Jahren entdeckt hatte.
Zwischen den blau-grau schimmernden Nebelformatio­nen öffnete sich plötzlich ein annähernd kreisrunder Übergang, der den Blick auf das Orion-System freigab.
In diesem Augenblick waren die Sterne noch in lange Streifen gezogen, doch gleich nachdem der Shuttle von dem Vortex erfasst worden war, nahmen sie urplötzlich wieder ihre normale punktförmige Gestalt an.
Für die Trägheitsdämpfer bedeutete der Übergang in den Normalraum echte Schwerstarbeit, denn der Shuttle verringerte seine Geschwindigkeit dabei äußerst schnell, sodass die Dämpfer über die normalen Belastungswerte hinaus beansprucht wurden. Dies galt auch für die Insassen selbst; ein Rumoren im Magen war dabei noch das geringste Übel.
Der Eintritt in den Normalraum dauerte nur wenige Sekunden, und sogleich passierte der Shuttle das Sprungtor mit seinen gewaltigen Ausläufern, die mit leistungsstarken Solarmodulen bestückt waren. Diese lieferten im Verbund mit dem Q-50-Reaktor genügend Energie, damit sich das Tor immer nach der Hauptkolonie ausrichten konnte.
Die Orion-Kolonien befanden sich in der Umlaufbahn von Pi³ Orionis beziehungsweise von Tabit, einem Stern vom Spektraltyp F, der eine schöne weiß-gelbe Färbung aufwies.
Innerhalb des Systems waren der vierte und fünfte Planet besiedelt, doch F-Sterne gaben weit mehr Licht ab als die irdische Sonne im Sol-System, weshalb die Siedlungen keinen leichten Stand hatten und größtenteils unterirdisch oder unter großen Kuppelbauten angelegt waren. Zwar waren Orion IV und V tatsächlich erdähnliche Planeten, aber aufgrund der hohen Leuchtkraft ihres Sterns herrschten auf beiden Welten wesentlich höhere Temperaturen vor.
Dennoch lebten fast vierzehn Millionen Menschen auf den beiden Planeten, die sich als besonders reich an Mineralien erwiesen hatten, sodass die Orion-Kolonien zu einem Zentrum der Schwerindustrie geworden waren. In der Umlaufbahn von Orion V befanden sich die riesige Caledonia-2-Raumstation sowie die UES-Orion-Flotten­werften, und da das System für das Erdsupremat eine hohe Bedeutung hatte, diente es außerdem als Hauptstützpunkt für die Siebte Raumflotte der Erdstreitkräfte, die für den Schutz des Orion-Sektors zuständig war.
»Endlich geschafft«, erklärte Guerra sichtlich erleichtert, während sich der Shuttle langsam in das innere System hineinbewegte. »Wo liegt die Arrogant, Sir?«, erkundigte sie sich schließlich, um den genauen Kurs festlegen zu können.
»Zuletzt war sie in der Nähe von Orion V«, beantwortete Matthew nachdenklich ihre Frage, denn der Frachter beschäftigte ihn noch immer. »Dort befindet sich ein großes Asteroidenfeld, in dem die angehenden Jagdpiloten besonders gut üben können.«
»Verstehe, dann setze ich also Kurs auf den fünften Planeten«, schlussfolgerte sie und wollte gerade die Navigationskontrollen bedienen, als sie plötzlich innehielt. »Moment, da kommt was auf der Notruffrequenz rein.«
»Ist es in Jetztzeit?«, wollte Matthew wissen, denn Funkwellen konnten sich im Normalraum maximal mit Lichtgeschwindigkeit, also mit etwa dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde ausbreiten. Je höher die Entfernung war, umso höher fiel auch die Verzöger­ungszeit aus.
»Nein, es ist eine Aufzeichnung«, antwortete sie.
»Okay, legen Sie sie auf den Hauptschirm.«
»Aye, Sir.« Guerra hantierte kurz auf dem holo­grafischen Tastenfeld herum, und bald darauf erschien auf dem großen Bildschirm das Gesicht eines sichtlich verzweifelt wirkenden Mannes, der mit hektischer Stimme sprach:
»Mayday! Mayday! Hier ist die SCL Pathfinder. An alle Schiffe in der Umgebung: Wir werden von Piraten angegriffen. Ich wiederhole: Wir werden von Piraten angegriffen. Können uns nicht mehr lange halten … Um Gottes willen … Bitte, kann uns irgendjemand helfen? Mayday! Mayday!«
»Verflucht!«, platzte es aus Matthew heraus. »Wo genau befindet sich der Frachter jetzt?«
»Acht Millionen Kilometer von unserer gegenwärtigen Position entfernt, Commander. Er verfolgt einen direkten Kurs nach Orion IV.«
Die Sensoren des Shuttles reichten natürlich nicht bis zu dem Frachter, aber ein System wie Pi³ Orionis war reichhaltig mit Überwachungstechnik ausgestattet, und da der Shuttle als Militärfahrzeug diente, hatte Guerra nahezu uneingeschränkten Zugriff auf die Systemsensoren.
Matthew studierte die Daten nun ebenfalls, und seine Stirn legte sich fragend in Falten. »Die Piraten haben doch noch nie so relativ nahe an bewohnten Kolonien Schiffe überfallen.«
»Vielleicht ändert sich das gerade«, erwiderte Guerra beinahe beiläufig. »Werden wir die Arrogant kontaktieren?«
Er überlegte kurz, bevor er antwortete. »Ja, wir zeichnen eine Nachricht auf und schicken sie verschlüsselt mit Alpha-Priorität zur Arrogant. Ich möchte nicht, dass die Piraten sie mithören können.«
Guerra nickte zustimmend und schaltete das Aufzeich­nungsgerät ein. Matthew formulierte eine kurze Mitteilung, woraufhin Guerra anschließend die Qualität der Aufnahme kontrollierte.
»Alles in Ordnung, Commander.«
»Abschicken! Und setzen Sie direkten Kurs auf die Pathfinder«, befahl er mit ernster Miene.
»Aye, Sir. Nachricht ist unterwegs. Setze neuen Kurs auf den Frachter.«

Ende des ersten Kapitels