M&F-2: Vorboten des Zorns

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Irgendwo im Gravstream
März 2355 (ESZ)

»So ein verfluchter Dreck!«, ließ Commander Nathan Westergaard, Kommandant des Kurierschiffs UEAV Avocet, seinem Unmut freien Lauf. Und um seine schlechte Laune noch zusätzlich zu unterstreichen, schlug er mit der geballten Faust so fest auf die Konsole, dass die holografischen Anzeigen für einen kurzen Augenblick flackerten.
Seit einer Stunde trieb das Schiff mittlerweile schon durch den Stream, nachdem der Übergang in den Normalraum durch das Delta-Sprungtor völlig danebengegangen war, weil er einen zu steilen Eintrittswinkel in den Cassin-Vortex gewählt hatte. Dadurch war die Avocet mit dessen Ereignisrand kollidiert und förmlich in den Stream zurückgeworfen worden.
Zwar hatte die kinetische Barriere eine Zerstörung des kleinen Schiffs verhindert, aber durch das gleichzeitige Übersteuern sämtlicher Schildprojektoren war es zum zeitweiligen Totalausfall der Elektronik gekommen, wodurch die Avocet den Kontakt zu einem rettenden Leitstrahl verloren hatte. Mit dem Ergebnis, dass das Schiff nun manövrierunfähig im Stream gefangen war, denn ohne einen Leitstrahl würde es nie mehr aus dem Stream herausfinden können.
Noch während Westergaard sich für diesen dummen Fehler – der nicht einmal einem Anfänger hätten passieren dürfen – innerlich selbst zur Rechenschaft zog, wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen.
»Systeme gehen wieder online, Sir.«
»Wird auch Zeit, Lieutenant Dahri«, sagte Westergaard mürrisch zu seinem Navigator und lenkte seine Aufmerksamkeit umgehend wieder auf die Holodisplays seiner Station. Sofort rief er die Kontrollen des Leitcomputers auf, aber schon ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu erkennen, dass sie sich weiterhin im Nirgendwo befanden.
»Wie sieht es aus, Commander?«, fragte unterdessen eine unerhört sanft und kontrolliert klingende Stimme, die zu einer attraktiven Frau gehörte.
Sarah Hancock, Senatorin des Erdkongresses und für das Werftressort mitverantwortlich, sah den Kommandanten mit ihren braunen Augen erwartungsvoll an. Sie behielt dabei ihre bequeme Sitzposition auf dem ledernen Sitz des Kopiloten bei – gerade so, als bereitete ihr die Situation noch keine übermäßigen Sorgen.
Hancock war achtunddreißig Jahre alt und hatte mittellange dunkelblonde Haare, die zu einer einfachen, aber eleganten, nach hinten gebundenen Frisur arrangiert waren. Ihr Gesicht war gut proportioniert, aber unscheinbar. Dies lag allerdings mehrheitlich daran, dass sie Make-up nur sparsam und äußerst dezent einsetzte. Ihre haselnussbraunen Augen hingegen funkelten voller Kraft und Durchsetzungswillen und signalisierten, dass man sie besser nicht unterschätzen sollte.
Ihr ganzes Auftreten entsprach den Erfordernissen ihres Amtes, und so bevorzugte sie einen konservativ-formellen Kleidungsstil. Heute trug sie einen geschäftsmäßigen dunkelblauen Anzug, bestehend aus einer passenden taillierten Jacke und einem eng anliegenden Rock, der ihr bis zu den Knien reichte, wodurch ihre langen Beine besonders gut zur Geltung kamen.
Sie war nicht unbedingt die schönste Frau, die Westergaard je getroffen hatte, aber anziehend genug, um dennoch zu versuchen, ihr näherzukommen. Allerdings hatte sie sich seinen Avancen gegenüber völlig unempfindlich gezeigt, was ihm aber wiederum keine übermäßigen Kopfschmerzen bereitete – man konnte eben nicht immer gewinnen.
Wenn man der Yellow Press auf der Erde Glauben schenken wollte, pflegte die Senatorin einen sehr ausschweifenden und dem Müßiggang zugetanen Lebensstil – vollkommen auf Kosten ihres Vaters, des mächtigen Magnaten Alfred Hancock. Doch Westergaard musste zugeben, dass in den vergangenen Monaten nichts darauf hingewiesen hatte und eher das genaue Gegenteil der Fall gewesen war, denn er hatte sie als sehr engagiert und aufgeschlossen erlebt.
Sie war somit nicht die erste prominente Person, bei der bestimmte Medien anscheinend gerne die Wahrheit verdrehten, um eine spannendere Geschichte erzählen zu können.
Ursprünglich war er von der Vorstellung nicht übermäßig begeistert gewesen, sie zu den wichtigsten Flottenwerften der Erdstreitkräfte zu fliegen. Doch mittlerweile hatte er eine deutlich bessere Meinung von ihr gewonnen, die vor allem auf in sich schlüssigen Erfahrungswerten beruhte.
Langsam ließ er seinen Blick von den Anzeigen zu ihr wandern und formulierte mit rauer Stimme eine Antwort auf ihre Frage: »Es sieht nicht gut aus, Miss Hancock. Wir haben keinerlei Kontakt zu irgendeinem Leitstrahl.«
»Wir sitzen also mächtig in der Tinte, wie man so schön sagt«, erklärte sie scheinbar unpassend locker. »Denn ohne einen Leitstrahl finden wir kein Sprungtor und kommen so auch nie mehr aus dem Stream heraus.«
»Genauso ist es«, gab er ihr recht, während sie wieder aus dem Sichtfenster auf den Stream sah.
Das Schiff hatte sich inzwischen endlich stabilisiert, sodass man wieder hinausblicken konnte, ohne dass einem schlecht wurde. Dabei bot der Stream den gewohnten Anblick, mit den in lange und unregelmäßige Streifen gezogenen Sternen sowie den nebelartigen Formationen, die in ihren blaugrau schimmernden Farbschattierungen beständig ihr Aussehen veränderten.
»Sir, da kommt ein Signal rein«, machte der Navigator auf sich aufmerksam.
»Was für eines, Lieutenant?«
»Ich kann es nicht eindeutig identifizieren, aber es müsste sich um das einer Torboje handeln«, antwortete Dahri und fügte rasch hinzu: „Allerdings sendet die Boje keinen Leitstrahl aus, nur das Positionssignal.«
Westergaard zog nachdenklich seine Stirn kraus, während er die Sensordaten begleitet von den erwartungsvollen Blicken von Dahri und Hancock auf seinem Terminal begutachtete. »Das darf einfach nicht sein«, sagte er dabei immer wieder leise zu sich selbst. Da die Brücke der Avocet jedoch winzig war, bekamen die beiden anderen Anwesenden dies automatisch mit – ebenso wie seinen immer besorgter werdenden Gesichtsausdruck.
»Was ist los, Commander?«, fragte Hancock. „Haben wir etwa noch mehr Probleme?« Eine Portion gehörigen Unglaubens schwang in ihrer Stimme mit, denn schlimmer als jetzt konnte es doch eigentlich gar nicht mehr werden.
Angesichts ihrer Frage konnte Westergaard seinen gequälten Gesichtsausdruck nicht länger verbergen, denn sie lag mit ihrer Vermutung genau richtig. Ihre Probleme hatten sich auf geradezu unglaubliche Weise weiter verstärkt. »Danach sieht es aber leider aus, Ma’am«, begann er schließlich nach einer längeren Pause zu antworten. »Mit der Boje scheint alles in Ordnung zu sein. Sie sendet anscheinend aus gutem Grund keinen Leitstrahl aus.«
»Wie das?«, wollte die Senatorin mit erhobenen Augenbrauen wissen.
Westergaard atmete tief durch. »Ich vermute, dass die Boje uns zu einem Sprungtor in ein System führt, das sich innerhalb des Hellespont-Gürtels befindet.«
Kaum hatte er das ausgesprochen, vernahm er auch schon das überraschte, scharfe Einatmen von Lieutenant Dahri, und auch Hancock vollführte sofort eine verstehende Geste.
Als Hellespont-Gürtel wurde die Neutrale Zone bezeichnet, die zwischen dem Vereinigten Erdsupremat, der Tengai-Konföderation und dem Vorionischen Imperium durch den Vertrag von Beta Hydri eingerichtet worden war. Der Vertrag war 2290 ratifiziert worden und bestand damit seit sechzig Jahren, ohne dass es bisher zu irgendwelchen Misshelligkeiten gekommen wäre. Die Vertragspartner respektierten die Beschlüsse, allerdings zu dem Preis, dass zwischen ihnen so gut wie kein Kontakt bestand.
»Vielleicht ist es besser, wenn wir weiterhin im Stream bleiben«, meinte Hancock vorsichtig.
»Das wird nichts bringen«, antwortete Westergaard umgehend. »Durch das Malheur beim Delta-Sprungtor sind wir wahrscheinlich tief in die Neutrale Zone hineinkatapultiert worden. Und wenn wir den Stream nicht bald verlassen, dann kommen wir irgendwo bei den Tengai oder den Vorionern wieder raus – falls überhaupt.«
Hancock blickte ihn ruhig an und schien über das Gesagte nachzudenken, bis sie schließlich zu einer Antwort ansetzte: »Verstehe. Aber wird dieses Tor überhaupt noch funktionieren? Immerhin ist es nun schon seit mehreren Jahrzehnten inaktiv.«
»Das ist wahr«, antwortete Westergaard mit einem kaum erkennbaren Nicken. »Aber Sprungtore müssen aus Gründen der Sicherheit immer auf Stand-by gehalten werden. Das gilt auch für die Tore in der Neutralen Zone – auch wenn man sie nicht direkt ansteuern kann. Doch da wir die Boje bereits geortet haben, können wir den Stream verlassen und so unsere genaue Position feststellen. Immer vorausgesetzt, die Quantium-50-Reaktoren des Sprungtors arbeiten noch.«
»Das leuchtet mir ein, Commander«, stimmte sie ihm zu. »Aber können wir nicht auch vom Stream aus feststellen, wo genau wir uns befinden?«
Westergaard machte eine verstehende Geste. »Wenn die Navigationskontrollen voll funktionieren würden, könnten wir das sicher. Aber leider ist das nicht der Fall. Wir müssen also erst in das System eintreten, damit wir herausfinden können, um welches System es sich genau handelt. Sobald wir diese Information haben, sehen wir weiter. Einverstanden?«
»In Ordnung«, antwortete Hancock knapp. Was hätte sie auch anderes sagen sollen.
Westergaard nahm ihre Antwort mit einem zufriedenen Nicken entgegen und wandte sich wieder dem Holodisplay seines Terminals zu. »Aktivieren Sie die Boje, Lieutenant Dahri. Sehen wir zu, dass wir endlich aus dem Stream herauskommen.«
»Aye, Sir«, antwortete der Navigator in dienstlichem Ton, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Grinsen. Er war ganz offensichtlich ebenso froh wie sein Kommandant, den Stream endlich zu verlassen.
Nachdem Dahri die nötigen Befehle an seiner Konsole aktiviert hatte, sandte die Avocet ein Signal an die Boje, die es wiederum an das Tor weiterleitete. Kaum hatte das Signal das Tor erreicht, fuhr dieses umgehend seinen Quantium-50-Reaktor hoch, sodass es einen Hochenergie-Graviton-Impuls generieren konnte. Dieser Impuls wiederum wurde von dem Tor auf das freie All ausgerichtet, worauf sich schlussendlich der sogenannte Cassin-Vortex aufbaute.
»Übergang baut sich in T minus fünf Sekunden auf. Fünf … vier … drei … zwei … eins. Vortex initialisiert sich«, kommentierte Dahri die Vorgänge.
Inmitten der blaugrauen nebelartigen Formationen gab es den erwartungsgemäßen kurzen, aber starken Lichtblitz, und es öffnete sich ein Übergang, der beständig größer wurde, sodass das Kurierschiff bequem hindurchpasste.
Dieses Mal achtete Westergaard besonders auf den richtigen Eintrittswinkel und sorgte dafür, dass die Avocet problemlos in den Vortex eintreten konnte. Das Schiff wurde von dem Strudel erfasst und innerhalb kürzester Zeit in den Normalraum überführt. Die Avocet passierte das Sprungtor, und die Sterne fielen augenblicklich in ihre normale punktförmige Erscheinung zurück. Sie befanden sich nun an der äußeren Grenze irgendeines unbekannten Sonnensystems.
»Status?«, forderte Westergaard, der seine Anspannung nur noch schwer unterdrücken konnte, mit energischer Stimme. Trotz der Tatsache, dass das Tor, das sie passiert hatten, von Menschen erbaut worden war, rechnete er jederzeit mit dem Auftauchen der Tengai oder gar der Vorioner. Bei diesem Gedanken war ihm nicht wohl zumute, aber deren Anwesenheit hätte natürlich einen klaren Verstoß gegen den Beta-Hydri-Vertrag bedeutet. Eine Erkenntnis, die im Fall des Falles aber auch keine echte Hilfe gewesen wäre.
Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass beide außerirdischen Völker eine streng isolationistische Einstellung pflegten, getreu dem Grundsatz: Je größer der Abstand zwischen ihnen und einer anderen Spezies war, umso besser.
Von daher war es unwahrscheinlich, dass man auf Vertreter dieser beiden Völker traf. Dagegen war die Gefahr, auf Piraten, Schmuggler, Sklavenjäger oder gar Outlaw-Kolonisten zu treffen – die über die Anwesenheit eines Schiffs der Erdstreitkräfte sicher wenig erfreut sein würden -, absolut real.
»Alle Systeme im grünen Bereich, Sir«, kam Dahri in der Zwischenzeit seiner Anfrage nach. »Der Übergang ist einwandfrei verlaufen.«
»Gut«, erwiderte der Commander und gab schnell den nächsten Befehl: »Starten Sie eine Klasse-5-Sonde. Ich will endlich wissen, wo wir uns befinden.«
»Aye«, sagte Dahri knapp und startete sofort die gewünschte Sonde, die sich umgehend auf den Weg in das innere System machte.
In der Ferne leuchtete das schwache Licht eines roten Zwergsterns der M-Kategorie. Das grenzte die zur Wahl stehenden Sterne schon ein wenig ein. Allerdings nur minimal, denn dieser Typ war tatsächlich die am häufigsten vorkommende Sternenklasse.
Die Sonde arbeitete sich mit rasendem Tempo in das System vor, da sie im Gegensatz zu bemannten Raumschiffen nicht den Beschränkungen durch Trägheitsdämpfer unterlag. Nach und nach kamen die ersten Daten bei der Avocet an, und schon bald wussten sie, dass das System über acht Planeten verfügte, die sich alle in nächster Entfernung zu ihrem jeweiligen Stern aufhielten, von denen immerhin zwei Gesteinswelten waren. Knapp dreißig Monde zählte Westergaard, und einige machten durchaus einen kolonisierbaren Eindruck. Doch das waren Informationen, die Westergaard gegenwärtig nicht weiter interessierten. »Haben wir was?«, wollte er stattdessen wissen.
»Noch nicht, Sir«, antwortete Dahri etwas ratlos.
»Suchen Sie auch in den historischen Datenbanken. Wenn sich das System wirklich im Hellespont-Gürtel befindet, dann wurde das Tor noch vor dem Jahr 2290 im vergangenen Jahrhundert errichtet.«
»Verstanden«, erwiderte Dahri und verdrehte über sich selbst verärgert die Augen. Er gab sofort die neuen erweiterten Suchperimeter ein. Es vergingen mehrere Augenblicke, bis er die Datenbanken des Schiffs mit den Sensordaten abgeglichen hatte, woraufhin er endlich mit einer Erfolgsmeldung aufwarten konnte. »System wird als CP-60-7528 identifiziert, Sir.«
Westergaard rief daraufhin sofort die Daten über das System auf seinem Terminal auf, und seine Miene erhellte sich zusehends. CP-60-7528 war zwar völlig unbedeutend, weswegen es auch keinen richtigen Namen hatte, aber es stellte sich heraus, dass es sich doch recht nahe an den Grenzen des Erdsupremats befand.
»Ist das eine gute Nachricht?«, wollte die Senatorin indes vorsichtig wissen.
Westergaard wendete sich ihr zu. »Das kann man so sagen, Ma’am. Wir sind nicht ganz so weit abgetrieben wie befürchtet. Die nächste Erdkolonie befindet sich nur etwas mehr als neun Lichtjahre von unserer gegenwärtigen Position entfernt.«
»Welche Kolonie?«
»Die Gamma-Kolonie im System Gamma Pavonis«, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns. Seine Anspannung verabschiedete sich nun endlich, nachdem sich die Situation als nicht ganz so ausweglos herausgestellt hatte, wie er zu Beginn befürchtet hatte.
»Dann sieht es also gut aus«, meinte Hancock wie zur Bestätigung ihrer eigenen Abgeklärtheit, die sie die ganze Zeit über zur Schau gestellt hatte.
Westergaard ließ sich von der Überheblichkeit der Senatorin aber nicht aus der Ruhe bringen. Dazu hatte sich seine Laune mittlerweile viel zu sehr gebessert. »Dem pflichte ich zu und …«
Plötzlich wurde er durch laute, hektisch ausgesprochene Worte von Dahri unterbrochen. »Kontakte, Sir! Unzählige Kontakte!«
»Beruhigen Sie sich!«, forderte Westergaard ungehalten und machte sich daran, die neuen Sensordaten selbst in Augenschein zu nehmen. Bei seinem ersten Blick auf den Ortungsschirm war nur ein einzelnes rot eingefärbtes Icon zu sehen, aber bald darauf wurden es immer mehr. Innerhalb kürzester Zeit erschien ein Icon nach dem anderen auf dem Schirm, sodass sie schon bald zu Hunderten sein Sichtfeld ausfüllten.
So ein verfluchter Dreck!

Ende von Kapitel eins.
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