M&F-3: Zeitenwende

1

Unbekanntes System
September 2355 (ESZ)

Sanft glitt der Shuttle durch die in ein tiefes Rot getauchte Start- und Landeröhre des Allianzzerstörers ACS Deucalion, bis er schließlich in das freie All vorstieß, vorbei an den vier rhythmisch blinkenden Positionslichtern, die die Ecken des Zugangs der Röhre flankierten.
Captain Meena Sinha saß im Passagierabteil und lehnte sich in ihren Sitz zurück, wobei sie versuchte, nach außen hin einen entspannten Eindruck zu machen. Ihre Haare waren lang und schwarz, ihre Haut hatte einen dunklen Teint. Ihre braunen Augen wirkten verschlossen, und ihr dank seiner weichen Züge durchaus als schön zu bezeichnendes Gesicht machte einen ernsten, aber nicht angespannten Eindruck, was nicht nur an der Situation lag.
Ihr gegenüber saß ein schwarz uniformierter Agent der Alliance Central Security Agency (ACSA) – des persönlichen Geheimdiensts des Präsidenten der Interstellaren Grenzallianz –, der sie keine Sekunde lang aus den Augen ließ und dessen Miene vollkommen kalt und versteinert wirkte.
Dennoch war Meena Sinhas Stimmung nicht schlecht. Und das, obwohl die Umstände ihrer Anreise alles andere als positiv waren. Sie wusste weder, wo sie sich gerade befand, noch, warum sie hier war. Die vergangenen Tage hatte sie an Bord des Zerstörers verbracht, von der Außenwelt vollkommen abgeschottet. Man hatte ihr nicht nur den Zugang zu sämtlichen Medien verwehrt, sondern ihr auch jeglichen Kontakt zur Crew des Schiffs untersagt, wodurch sie sich die Zeit in ihrem Quartier mit einem Buch vertreiben musste.
Dass sie sich auf der Deucalion nicht frei bewegen konnte, war natürlich nicht verwunderlich, denn schließlich gehörte das Schiff zur ACSA. Normalerweise betrat kein Mitglied des Allianzmilitärs – oder gar eine Zivilperson – dieses Schiff ohne einen triftigen Grund. Wenn doch, sah man die betreffenden Personen für gewöhnlich nie wieder. Doch in ihrem Fall würde das anders sein, dessen war sich Meena Sinha sicher. Die Umstände ihrer Anwesenheit waren einfach andere. Allein dass ihr Name Sinha lautete, machte sie in der Allianz zu einer schwer fassbaren Person.
Ihre Familie gehörte zu den einflussreichsten in der Grenzallianz und stand der des Präsidenten sehr nahe. Natürlich war sie dadurch nicht völlig unantastbar, denn die Taylors gingen sogar gegen engste Familienangehörige vor, sofern sie gegen die Interessen des Präsidenten arbeiteten. Doch ihr fiel beim besten Willen kein Grund ein, warum sie oder ihre Familie sich beim Präsidenten unbeliebt gemacht haben sollten. Nein, es musste einen anderen Grund geben. Davon ging sie jedenfalls aus.
Das einzig Gute an der Situation war, dass sie anscheinend ihr Ziel erreicht hatten, sodass sie nun endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen würde. Dieser Gedanke hob ihre Laune ein wenig, obwohl sie natürlich wusste, dass es dafür eigentlich keinen Grund gab.
Sie richtete ihren Blick auf den Agenten, der sie noch immer mit ausdruckslosen Augen anvisierte – doch auf einmal regte sich so etwas wie Leben in dem Mann.
»Machen Sie sich bitte bereit, Ma‘am. Wir sind bald da.«
»Darf ich wissen, wo das ist?«, erkundigte sie sich.
»Das werden Sie früh genug erfahren«, antwortete er ihr kurz angebunden.
Mehrere Minuten verstrichen, in denen nichts weiter passierte, bis der Shuttle plötzlich aufsetzte. Sie vernahm das deutliche Einrasten der Andockklammern, was ein Hinweis darauf war, dass der Shuttle auf einer Plattform gelandet war, die sich innerhalb der Start- und Landeröhre eines Schiffs oder einer Raumstation befand.
Die Plattform setzte sich in Bewegung und fuhr nach oben. Meena Sinha unterdrückte den Drang, auf ihrem Platz unruhig von einer Seite auf die andere zu rutschen.
Unvermittelt stoppte die Plattform.
Der Agent lauschte dem Funkverkehr und stand schließlich auf, um die Ausstiegsluke zu öffnen. Sobald das erledigt war, wandte er sich ihr zu. »Nach Ihnen, Ma‘am«, sagte er und zeigte auf den offenen Ausstieg.
Meena Sinha erhob sich von ihrem Sitzplatz und setzte sich langsam in Bewegung, wobei sie den Agenten abschätzend ansah, bevor sie den Shuttle verließ. Sie war eigentlich davon ausgegangen, von noch mehr dieser schwarz uniformierten Gestalten in Empfang genommen zu werden, doch zu ihrer Verwunderung sah sie sich lediglich jeder Menge regulärem Raumflottenpersonal und unzähligen Allianz-Marines gegenüber.
Ein männlicher Lieutenant Commander trat auf sie zu. »Ma‘am, willkommen auf der Alliance
Meenas Augen weiteten sich ungewollt. »Reden wir hier vom Schlachtschiff Alliance …« – ihre Augen suchten das Namensschild des Flottenoffiziers – »… Commander Jeffries?«
»Ja, Ma‘am. Dies ist das Schiff von Fleet Admiral Murali Narayan«, antwortete er. »Der Admiral erwartet Sie bereits in seinem Arbeitszimmer«, fuhr er fort und wies dabei mit einer Hand zum Ausgang des Hangars. »Folgen Sie mir bitte.«
Was? Fleet Admiral Narayan will mit mir sprechen? Was kann der Oberbefehlshaber der Alliance Defense Forces nur von mir wollen?, ging es ihr durch den Kopf. Wie ich diese Geheimniskrämerei hasse!
»Ma‘am«, vernahm sie die fordernd klingende Stimme des Commanders, dem sie sich nur widerwillig zuwandte.
»Komme«, sagte sie knapp und sah noch einmal kurz zurück zu dem Shuttle und dem ACSA-Agenten. Doch das Schotttor war längst wieder geschlossen, der Shuttle befand sich wohl bereits auf dem Rückweg zur Deucalion – durchaus ein Grund zur Erleichterung.
Nachdem der Commander sich noch einmal, diesmal auf eine eher ungeduldig klingende Art und Weise, bemerkbar gemacht hatte, folgte Meena Sinha ihm zum nächstbesten Turbolift.
»Kommandodeck«, befahl Jeffries, und sobald auch Meena sich in der Kabine befand, setzte sich der Lift umgehend in Bewegung. Die Fahrt dauerte nicht lange, bereits nach kurzer Zeit glitten die Türen zur Seite.
Jeffries gab ihr mit einem Blick klar zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte, und nach wenigen Schritten erreichten sie einen Korridor. Dieser war von mehreren Wachsoldaten der Alliance Special Forces (ASF) gesäumt, die für den Schutz des Präsidenten und anderer hoher Würdenträger der Grenzallianz verantwortlich waren.
Der Commander steuerte gezielt eine Tür an, vor der drei Soldaten Wache standen. »Captain Meena Sinha zum Admiral«, sagte er zu dem ASF-Lieutenant, der umgehend Narayan kontaktierte.
Die Tür öffnete sich, und Commander Jeffries trat mit den Worten »Sie dürfen eintreten, Captain« zur Seite.
Meena zögerte kurz, betrat dann jedoch selbstbewusst das Arbeitszimmer des Admirals.
Narayan stand vor einem großen holografischen Fenster, das er jedoch verdunkelte, sobald er ihre Anwesenheit wahrnahm.
»Captain Meena Sinha meldet sich wie befohlen, Sir«, sagte sie und salutierte in der ihrem Rang entsprechenden Manier.
Der Admiral wandte sich ihr zu. Er war Ende fünfzig und von leicht untersetzter Statur. Seine Haare waren bereits angegraut, und seine Haut hatte, ebenso wie die ihre, einen dunklen Teint. Sein Gesicht wirkt angespannt und gleichzeitig unverbindlich, als er sagte: »Rühren, Captain.« Er sah in Richtung seines Schreibtischs. »Setzen Sie sich«, sagte er und wies auf einen bequem aussehenden Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.
Meena steuerte den Stuhl an, blieb jedoch unvermittelt stehen, als sie eine weitere Person bemerkte, die plötzlich aus dem Halbdunkel heraustrat.
Die Kriegsministerin!, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Wo bin ich da nur hineingeraten?, fragte sie sich leicht besorgt. Doch sie überwand die erste Verwunderung rasch und nahm unverzüglich wieder Haltung an.
Valentina Petrova, der das Kriegsministerium unterstand, kam mit ausdrucksloser Miene auf sie zu, nahm dann jedoch unvermittelt in einem ledernen Sessel Platz, der neben dem Schreibtisch des Admirals stand. Sie schlug die Beine übereinander und blickte Meena forschend an. »Setzen Sie sich doch, Captain«, wiederholte sie die Aufforderung des Admirals.
»Ja, Ma‘am«, antwortete Meena und tat, wie ihr geheißen.
Narayan, der inzwischen selbst in seinem Sessel Platz genommen hatte, lächelte schmal. »Nur die Ruhe, Captain Sinha. Sie haben nichts zu befürchten. Sie sind hier, weil wir der Meinung sind, dass Sie genau die richtige Person für eine Unternehmung sind, die wir in den nächsten Monaten in Gang setzen wollen.«
»Was für eine Unternehmung?«, hakte Meena sofort nach.
»Eine, der eine entscheidende Bedeutung zukommt, Captain«, stellte Petrova mit ernster Stimme klar. »Die gesamte Zukunft der Allianz könnte vom erfolgreichen Ausgang dieser Unternehmung abhängen«, erklärte sie weiter.
Kleiner ging es wohl nicht?, dachte Meena spöttisch, ohne eine Miene zu verziehen. »Können Sie konkreter werden, Frau Ministerin?«, fragte sie einige Herzschläge später.
»Projekt Janus, Captain«, beantwortete Narayan ihre Frage.
»Janus?«, fragte Meena mit hochgezogenen Augenbrauen. »Etwa der römische Gott mit den zwei Gesichtern?«
»Ganz recht«, antwortete der Flottenadmiral und tauschte einen vielsagenden Blick mit Petrova aus. Als diese nickte, erhob sich der Admiral von seinem Sessel, ging zu dem holografischen Fenster und hob die Verdunkelung auf. »Kommen Sie her, Captain«, forderte Narayan Meena auf, nachdem er mehrere Augenblicke das angesehen hatte, was man von dem Fenster aus sehen konnte.
Meena sah unschlüssig die Ministerin an, die ihren Blick ohne große Gefühlsregung erwiderte. Schließlich kam sie der Aufforderung des Admirals nach und trat neben ihn.
»Sehen Sie«, meinte er und deutete mit der Hand auf das Fenster.
Meena sah durch das Fenster, und ihre Augen weiteten sich umgehend. Vor ihr tat sich ein gewaltiges Werftdock auf, in dem sich ein großes Raumschiff befand. Um das Schiff wuselten unzählige emsige Arbeiter in Raumanzügen und Arbeitsshuttles herum. Doch es war das Schiff, das schnell ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie musterte die keilförmige Struktur, die so gar nicht zu einem Allianzschiff passen wollte, und ihre Verwunderung nahm ungeahnte Züge an. Auch die mattschwarze Rumpffarbe und die dunkelblauen Streifen erregten ihren Argwohn. »Ist das etwa ein UES-Kreuzer? Wie sind wir denn an so ein Schiff gekommen?«
»Sehen Sie genauer hin«, verlangte der Admiral.
Erneut wandte sich Meena dem Schiff zu und studierte es. Sie verglich die Länge des Schiffs mit der eines Zerstörers der Demon-Klasse, der hinter dem Dock auf Position kreuzte, aber die Maße schienen zu stimmen. Selbst nach einer eingehenden Begutachtung der äußeren Details konnte sie keine Unstimmigkeiten ausmachen. Ratlos schüttelte sie den Kopf.
»Setzen wir uns wieder, Captain«, sagte Narayan in aller Seelenruhe und steuerte erneut seinen Sessel an. »Sie haben sich sicher gefragt, um was für ein Schiff es sich handelt«, begann er, nachdem er und auch Meena wieder Platz genommen hatten. »Ich kann Ihnen sagen, dass dies einer unserer Großen Kreuzer der Independence-Klasse ist. Wir haben das Schiff in seiner äußeren Erscheinung so rekonstruiert, dass es aussieht wie ein Kreuzer von der Erde.«
»Zu welchem Zweck, Sir?«, fragte Meena vorsichtig, denn den konnte sie sich selbst denken.
Narayan lächelte dünn. »Um es kurz zu machen, Captain: Projekt Janus besteht nicht nur aus dem Umbau eines unserer Raumschiffe – denn das allein würde auch keinen Sinn ergeben –, sondern verfolgt den Zweck, die UES in einen neuerlichen Krieg mit der Sidani-Föderation zu ziehen.«
Meena hatte große Mühe, zu verhindern, dass ihr die Kinnlade herunterfiel. Hat der Admiral das gerade wirklich gesagt? Will er die UES tatsächlich in einen Krieg mit den Sidani ziehen – sozusagen in einen zweiten Erde-Sidani-Krieg? Ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Doch, genau das hat der Admiral gesagt, erkannte sie. Dieses Schiff da draußen ist ein beschissener Handelsstörer. Das ist total verrückt. Wahnsinnig, bescheuert!
»Geht es Ihnen gut, Captain?«, erkundigte sich Petrova, der der entrückt wirkende Blick von Meena Sinha nicht entgangen war.
Meena sah die Ministerin sofort an. »Ja, Ma‘am«, beeilte sie sich zu antworten. Es lag nicht in ihrem Interesse, vor der Kriegsministerin Schwäche zu zeigen, denn dies war innerhalb der Grenzallianz grundsätzlich keine gute Idee. »Mir ist nur gerade die Tragweite des Gesagten bewusst geworden.«
Fleet Admiral Narayans Lächeln nahm derweil einen kühlen Ausdruck an. »Ja, da kann man schon einmal die Fassung verlieren, nicht wahr, Captain?«, gab er sich jovial. »Aber glauben Sie mir, der Präsident hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht.« Narayan erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch. Er baute sich vor ihr auf, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Tischkante. »Präsident Taylor und seine Berater glauben, dass die UES auch einen zweiten Krieg gegen die Sidani gewinnen könnte. Unsere Technik hat in den vergangenen dreißig Jahren enorme Fortschritte gemacht. Wir sind den Sidani mehr als gewachsen.«
Meena nickte verstehend. »Aber um die Sidani geht es hierbei nicht, oder? Die sind nur ein Mittel zum Zweck.«
»Gut erkannt, Captain«, befand Petrova, deren Stimme fast schon lobend klang. »Ziel des Plans ist eine deutliche Schwächung der UES, damit sich unsere Allianz wieder weiter ausdehnen kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir der Erde leider nicht mehr gewachsen. Weder wirtschaftlich noch militärisch.«
Steht es wirklich so schlecht?, fragte sich Meena im Stillen, während sie laut sagte: »Doch nur auf lange Sicht gesehen, oder, Ma‘am?«
»Für den Moment ja, Captain«, erwiderte Petrova. »Doch ohne eine weitere Expansion ist es um die Zukunft unserer Allianz eher schlecht bestellt. Aufgrund der im letzten Jahr gescheiterten Eroberung des Porrima-Systems sowie der dadurch nicht stattgefundenen Operationen gegen Zavijava und Denebola fehlen uns die notwendigen wirtschaftlichen Impulse und Ressourcen, um unsere Wirtschaft in dem Umfang weiterzuentwickeln, wie es eigentlich angebracht wäre.« Petrova lehnte sich zurück und machte einen sichtlich angespannten Eindruck. »Auf normalem Weg gelingt uns das nun nicht mehr«, fuhr sie fort. »Der bisherige Kurs von Präsident Taylor lässt sich nur unter der Voraussetzung weiterhin durchhalten, dass die UES sowohl militärisch als auch politisch deutlich geschwächt wird.«
Bei der Erwähnung der fehlgeschlagenen Porrima-Aktion war Meena leicht zusammengezuckt, denn ausgerechnet ihre Schwester Kavita Sinha war hierfür verantwortlich gewesen. Was für ein aberwitziger Plan, dachte sie. Aber warum eigentlich nicht?, fragte sie sich und sortierte ihre Gedanken. Die UES hat die Sidani einmal besiegt, sie könnte das vielleicht ein weiteres Mal schaffen. Aber trotzdem, so ein Konflikt würde Millionen, vielleicht Milliarden von Toten bedeuten, und das nur, weil der Allianzpräsident längst notwendige Reformen nicht durchführen will. Diese Gedanken laut auszusprechen wagte Meena nicht. Es war auch nicht angebracht. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf andere wichtige Details der anstehenden Unternehmung: »Und ich soll die Janus kommandieren?«
»Ja, Captain. Sie wurden angefordert«, antwortete Narayan.
»Von wem?«, fragte Meena, die die Antwort schon erahnte.
»High Commissioner Kavita Sinha ist die Hauptinitiatorin des Janus-Projekts«, antwortete Petrova für den Admiral. »Ihre Schwester, nicht wahr?«
»Jawohl, Ma‘am.«
Seit der missglückten Porrima-Aktion war der Stern der Sinha-Familie innerhalb der Allianz im Sinkflug begriffen gewesen; zumindest war sie nicht mehr so einflussreich wie zuvor. Meena selbst hatte davon nicht viel mitbekommen, denn sie war die Kommandantin des Zerstörers Daedalus geblieben und verbrachte ohnehin nicht viel Zeit auf Berenicia. Für Kavita und ihre Eltern hingegen waren die Folgen weit weniger erfreulich, zumal ihre Schwester mit erheblichen medizinischen Problemen zu kämpfen gehabt hatte. Doch nun war ihre Schwester anscheinend wieder zurück, davon musste man zumindest ausgehen, wenn der Präsident so ein Projekt genehmigte.
»Was genau soll ich tun?«, fragte sie schließlich, ohne einen der beiden anderen Anwesenden direkt anzusprechen.
Narayan wechselte einen erneuten Blick mit Petrova, bevor er sich räusperte. »Ohne übermäßig ins Detail gehen zu wollen: Sie werden die Janus in den Hoheitsbereich der Sidani führen, Captain. Ihre Aufgabe wird es sein, Jagd auf die zivile Raumfahrt dieser Außerirdischen zu machen. Außerdem sind Angriffe auf kleinere Raumstationen und Außenposten vorgesehen.« Er hielt kurz inne und sah sie eindringlich an. »Halten Sie sich jedoch unbedingt von Kriegsschiffen fern. Auf den ersten Blick mag die Janus jedem Vergleich mit einem UES-Kreuzer standhalten. Doch die Sidani sind nicht dumm, sie werden den einen oder anderen Unterschied mit Sicherheit bemerken, sobald sie erst einmal genauere Daten zur Verfügung haben. Dafür muss man kein Genie sein.«
»Verzeihung, Sir«, brachte Meena erstaunt vor. »Wenn Sie damit rechnen, dass die Sidani den Bluff bemerken werden, warum soll der Plan dann überhaupt umgesetzt werden?«
»Bei den Sidani gibt es genügend Hardliner, denen jeder Vorwand recht ist, um sich für die Niederlage im Krieg von 16/26 zu revanchieren. Und solange es keine wirklichen Beweise dafür gibt, dass die Janus eines unserer Schiffe ist, hat der Plan eine sehr reale Chance auf Erfolg«, antwortete Narayan überzeugt. »Die Sidani werden – wenn Sie alles richtig machen, Captain – unsere Ziele nicht durchschauen. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass die Sidani Ihr Schiff niemals stellen beziehungsweise kapern können.«
»Sir, bei allem Respekt«, begann Meena, »aber das ist doch ein sehr gefährlicher Plan. Sobald die Operation läuft und die ersten Frachter zerstört werden, werden die Sidani alles daransetzen, den Handelsstörer – also mein Schiff – zum Kampf zu stellen. Sie haben eine gewaltige Raumflotte. Die mächtigste des bekannten Raumgebiets. Nicht einmal die Flotten der Vorioner oder der Yargon können mit der der Sidani mithalten.«
»Das ist uns bekannt, Captain«, meinte Petrova wirsch und sichtlich ungehalten. »Der Präsident und Ihre Schwester haben alles Relevante bereits geklärt. Wir haben ohnehin keine echten Optionen. Ohne neue Eroberungen auf Kosten der UES steht es um die Zukunft unserer Allianz sehr schlecht.« Die Ministerin fixierte Meena. »Wir müssen es wagen, Captain.«
Meena schluckte schwer. Dass Petrova die wirtschaftlichen Probleme und die absehbaren Folgen so offen aussprach, ließ tief blicken. Natürlich durfte sie das nicht nach außen tragen, das war ihr vollkommen klar, auch wenn Narayan und Petrova dies nicht laut ausgesprochen hatten. Es verstand sich von selbst, wollte sie am Leben bleiben.
»Also gut.« Meena atmete tief durch. Es fiel ihr nicht leicht. »Was ist mit der Mannschaft des Schiffs? Wenn ich die Janus übernehmen soll, dann brauche ich Leute, denen ich uneingeschränkt vertrauen kann.«
Petrova nickte und schaute Narayan an. »Da kann ich Ihnen weiterhelfen, Captain«, begann der Flottenadmiral. »Die Mannschaft der Daedalus befindet sich gerade auf dem Weg hierher. Die unbesetzten Stellen werden durch handverlesene Leute aufgefüllt.«
Von denen einige ganz sicher Spione der ACSA sind, dachte Meena säuerlich, vermied es aber tunlichst, sich davon etwas anmerken zu lassen. So beließ sie es bei einem schlichten »Danke«.
Für einen Kommandanten der Allianzflotte war die Anwesenheit eines Politoffiziers nichts Weltbewegendes, sondern etwas vollkommen Normales – denn das Taylor-Regime vertraute niemandem. Nicht einmal denjenigen, denen es seine eigentliche Macht verdankte, nämlich dem Militär.
Und so war Meena ganz froh darüber, dass sie zu ihrem Politoffizier Michael de Klerk ein recht gutes Verhältnis hatte. Mittlerweile vertraute sie ihm und respektierte ihn. Dieser Umstand und die Aussicht darauf, ihn und die gesamte Crew der Daedalus bei dieser Unternehmung an ihrer Seite zu wissen, verliehen ihr ein gutes Gefühl.
»Nun, Captain, werden Sie die Führung der Janus annehmen?«, fragte Narayan, wobei er sie eindringlich ansah. Auch die grünen Augen von Petrova lasteten schwer auf Meena.
»Ja, Sir«, antwortete sie nach einer kurzen Denkpause. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, aber eine echte Alternative hatte sie ohnehin nicht. Zwei Dinge bereiteten ihr heftige Kopfschmerzen. Zum einen, dass sie unschuldige Sidani würde töten müssen. Zum anderen, dass ein durch ihre Aktionen ausgelöster Krieg Millionen von Toten fordern würde. Womöglich bürdete sie sich damit eine Schuld auf, mit der sie nicht leben konnte. Aber darüber wollte sie nicht wirklich nachdenken, denn sie hatte einen Auftrag bekommen, der ihre Karriere im Erfolgsfall ordentlich voranbringen konnte. Nicht zu vernachlässigen war auch, dass das Ansehen ihrer Familie wieder erheblich steigen würde, das infolge der gescheiterten Porrima-Aktion deutliche Einbußen erlitten hatte.
»Gut, Captain«, meinte Narayan zufrieden. »Ruhen Sie sich etwas aus. Einer meiner Adjutanten wird Ihnen ein Quartier zuweisen. Morgen werden wir dann gemeinsam die Janus besichtigen. Ich schätze, Sie können es kaum erwarten, das Schiff eingehend in Augenschein zu nehmen. Sie werden sich für die anstehende Aufgabe mehr als gerüstet fühlen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Danke, Sir«, sagte Meena, stand auf und salutierte. »Bitte um die Erlaubnis, wegtreten zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt, Captain«, sagte Narayan.
Die Ministerin wartete ab, bis Meena Sinha den Raum verlassen hatte, wobei sie ihren Abgang interessiert verfolgte. »Was hältst du von ihr, Murali? Ist sie die Richtige für den Job?«
Narayan lehnte sich zurück und blies die Wangen auf. Nachdenklich stieß er die Luft wieder aus, so als könne er damit eine Last von sich nehmen. »Kavita Sinha wollte sie haben. Der Präsident vertraut ihr wieder, da stellt sich die Frage, ob Meena Sinha geeignet ist oder nicht, gar nicht erst, Valentina.«
Petrova war mit der Antwort alles andere als zufrieden und bedachte den Flottenadmiral mit zu Schlitzen verzogenen Augen. »Man sollte meinen, dass man für so eine Aufgabe Offiziere auswählt, die dafür optimal qualifiziert sind und nicht nur der richtigen Familie angehören.«
Narayan hätte beinahe laut aufgelacht, aber das hätte die Ministerin sicher nicht entschuldigt. Doch gerade der letzte Teil ihres Satzes entbehrte nicht einer gewissen Komik. Denn wenn in der Allianz eines wichtig war, dann die Familienzugehörigkeit und gute Beziehungen zu den höchsten Kreisen der Regierung. »Warten wir ab, Valentina«, sagte der Admiral schließlich. »Vielleicht überrascht sie dich noch. Ihre Akte gibt jedenfalls keinen Grund zur Beanstandung.«
»Wenigstens etwas«, antwortete Petrova wenig überzeugt. »Aber vielleicht hast du recht: Warten wir ab, wie sich Meena Sinha anstellt.«
»Dem stimme ich zu«, erklärte Narayan und machte dabei einen zufriedenen Eindruck.

Zur selben Zeit

Meena betrat den Korridor, ohne die Wachposten an der Tür weiter zu beachten. Zu stark war sie von ihren Gedanken eingenommen. Deshalb bemerkte sie auch nicht gleich die Frau, die in einem topmodischen und körperbetonten schwarzen Anzug sowie einem Kopftuch und einer Art Schleier auf sie zukam.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du auftauchst, Kavi«, begrüßte Meena ihre Schwester, wobei ihre Stimme bedrohlich klang. Es gefiel ihr gar nicht, für diesen Auftrag ausgewählt worden zu sein.
»Nicht hier«, sagte Kavita Sinha mit einem Nicken und hob beschwichtigend eine Hand, mit der sie kurz auf eine Tür wies.
Meena Sinha schluckte ihren Ärger für den Moment hinunter und folgte ihrer Schwester in den kleinen Konferenzraum. Kavita stellte umgehend einen Störsender auf den Tisch und aktivierte ihn.
»Wie geht es dir, Kavi?«, fragte Meena mit ehrlichem Interesse, nachdem der Sender seine Arbeit aufgenommen hatte, was er mit einem kurzen melodischen Ton anzeigte. Gleichzeitig begann ihre Schwester damit, langsam den Schleier und das Kopftuch abzunehmen.
»Den Umständen entsprechend«, bekam sie zur Antwort.
Meena stand schon ihr ganzes Leben lang im Schatten ihrer älteren Schwester. Kavita war stets die Schlaueste, Schönste und auch Erfolgreichste gewesen, doch irgendwie hatten sie trotzdem immer zusammengehalten.
Vorsichtig nahm Kavita Sinha das Kopftuch komplett ab. Meena musste sich zwingen, ihre Schwester unvoreingenommen anzusehen. Früher hatte sie als eine der attraktivsten Frauen der ganzen Allianz gegolten, doch seit dem schrecklichen Vorfall auf der Independence, bei dem sie am ganzen Körper Verbrennungen erlitten hatte, war ihr Äußeres entstellt. Glücklicherweise hatte sich das Bild in der Zwischenzeit gebessert. Unzählige Haut- und Haartransplantationen hatten die schlimmsten Auswirkungen beseitigt. Dennoch würde Kavitas Äußeres nie wieder so makellos sein, wie es einstmals gewesen war.
»Da hast du mir ja eine schöne Aufgabe aufgehalst, Schwesterherz«, sagte Meena, wobei sie an Kavita herantrat und sie freundlich umarmte.
»Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann«, antwortete Kavita, während sie sich langsam aus der Umarmung ihrer Schwester löste. Seit den furchtbaren Ereignissen auf der Independence während der Porrima-Aktion empfand sie körperliche Nähe als überaus unangenehm.
»Aber ein zweiter Erde-Sidani-Krieg?«, fragte Meena besorgt. »Das ist doch ein total verrücktes Unterfangen. Wenn das schiefgeht, kann das die Existenz der gesamten Menschheit gefährden.«
»Wir haben sie schon einmal besiegt«, entgegnete Kavita kühl.
»Die Sidani hatten nach zehn Jahren Krieg einfach keine Lust mehr, weiterzukämpfen«, relativierte Meena mit einem beißenden Unterton in der Stimme. »Das ist wohl nicht ganz dasselbe!«
Kavita lachte. »Gut gekontert, Meena.«
»Vielleicht, aber helfen tut mir das nicht«, gestand sie mit einem gequälten Lächeln ein.
»Nein, tut es nicht«, bestätigte Kavita. »Wie gesagt: Ich brauche dich, Meena. Das Janus-Projekt muss von jemandem geleitet werden, dem ich uneingeschränkt vertrauen kann – und dieser Jemand bist du. Ich weiß, du wirst alles dir Mögliche tun, um die Operation zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, selbst wenn dir die Konsequenzen nicht vertretbar erscheinen.«
Meena sah ihre Schwester abwartend an. »Die zu erwartenden Millionen Toten, die unausweichlich sind, wenn ich meine Aufgabe erfülle, belasten mein Gewissen, Kavi. Ich wünschte, du hättest jemand anderen für die Leitung dieser Operation ausgewählt.«
»Ich habe dich vorgeschlagen, Meena, das ist wahr«, räumte Kavita ein. »Der Präsident hatte allerdings durchaus Alternativen, hat sich letztendlich aber für dich entschieden.«
»Na, wenn der Präsident ruft, dann sagt man besser nicht Nein, richtig?« Meena lachte angestrengt. Sie war nicht glücklich.
Kavita trat zu ihr heran und sah ihr tief in die Augen. »Du weißt nicht, wie hart die vergangenen acht Monate waren, Meena. Unsere Familie hat sehr viel an Reputation eingebüßt. Gleich nach der Porrima-Aktion haben mehrere Familien damit begonnen, aus unserer Schwächephase Kapital zu schlagen.« Sie unterbrach sich einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Vater wäre daran beinahe zerbrochen.« Sie atmete tief durch. »Eine Sinha hat diesen Plan ausgearbeitet, und eine Sinha sollte ihn auch umsetzen und zum Erfolg führen.«
Meena schaute Kavita abwartend an. »Ist das wirklich so?«
»Was meinst du?«, fragte ihre Schwester irritiert.
»Der Umbau der Janus muss schon eine ganze Weile vonstattengehen. Allein für das Versetzen der Hauptgeschütze braucht man doch Monate.«
Kavita lächelte. »Man kann dir nichts vormachen, Meena. Das war schon früher so.« Sie dachte einige Augenblicke lang nach. »Du hast recht«, begann sie schließlich. »Der Umbau des Kreuzers wurde schon vor drei Jahren in Angriff genommen. Admiral Gauthier hatte die Idee, einen kampfstarken getarnten Handelsstörer zu konstruieren, und autorisierte den Umbau. Doch die Arbeiten wurden nicht sehr energisch vorangetrieben. Auch weil es keine konkreten Pläne für den Einsatz des Handelsstörers gab. Erst ich habe dies geändert und der Janus damit eine Existenzberechtigung gegeben«, erklärte sie mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. »Anfangs war der Präsident zwar nicht unbedingt begeistert, aber je mehr ich von meinem alten Einfluss zurückerlangte, desto mehr gewann ich Taylor für den Plan.
Wenn er funktioniert, wird nicht nur die Zukunft der Allianz gesichert sein, sondern auch der Ruf und die Stellung unserer Familie werden nicht nur wiederhergestellt werden, sondern auch noch wachsen.«
Meena nickte bedächtig. »Aber ist der Preis dafür nicht viel zu hoch?«
Kavita sah sie ernst an. »Nein«, war alles, was sie darauf antwortete. Für sie stellte sich diese Frage gar nicht erst. »Alles, was den weiteren Bestand der Allianz sichert, ist es wert, in Kauf genommen zu werden. Wenn das Millionen toter Menschen und Außerirdischer sind, dann muss es eben so sein.«
Meena schluckte schwer. Obwohl sie ihre Schwester wirklich mochte, hatte sie ihre rücksichtslose Art schon immer verabscheut. Die Tatsache, dass sie nun auf die gleiche Weise handeln sollte, sagte ihr überhaupt nicht zu. Aber da sie Fleet Admiral Narayan bereits zugesagt hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie würde die Janus schon bald gegen die Sidani führen und damit einen Krieg heraufbeschwören, der die bekannte interstellare Welt für immer verändern konnte.

Ende von Kapitel 1
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